Einzelne Arbeiten aus der Folge bzw. alle sechs Berlinansichten befinden sich in folgenden Sammlungen:
Aus einem Text von Gisold Lammel
„In den 1980er Jahren radierte Gerenot Richter eine Folge Berlinansichten. Sie umfasst Darstellungen markanter Architektur der zwischen Oranienburger Straße, Friedrichstraße und Unter den Linden gelegenen Region, die er jahrzehntelang nahezu tagtäglich erlebte. Besonders häufig kehren auf diesen Bildern Motive der Museumsinsel wieder. Auf sie blickte er von seiner Arbeitsstätte im Dachgeschoss der Burgstraße 26. Wenngleich er weitgehende topografische Treue bewahrte, ging es ihm keineswegs um die Gestaltung von Stadtveduten.
Ihm lag viel daran, auch den Charakter und die Biografie des jeweiligen Architekturkomplexes anzudeuten und seine Gedanken über jene geschichtsträchtigen Bauwerke hineinzuweben. Vom Gesehenen ausgehend, vermochte er, Sinnbilder zu schaffen und Architekturerlebnisse zu Elegien, Mahnungen und Hoffnungen zu formen.
Gerenot Richter äußerte in diesen Bildern seine Betroffenheit über Kriegszerstörungen, aber auch seine Genugtuung über die Wiederherstellung wichtiger, das Antlitz der Stadt prägende Bauten. Er meditierte in ihnen über die Rolle der gebauten Umwelt im gesellschaftlichen Leben und über Veränderungen, die Zeiten und Ereignisse im Bild der Stadt hinterließen. Auf Staffage verzichtete er weitgehend, dennoch wohnt den Darstellungen eine soziale Bezogenheit inne. Für die einzelnen Blätter der Folge wählte er unterschiedliche Jahres- und Tageszeiten und deutete somit Wandel wie auch verschiedene Stimmungen an.
Eine seltsame Anziehungskraft geht von Richters Ein- und Durchblicken aus. In den Bildern seiner Folge Berlinansichten entwickeln sich feine Spannungen zwischen Objektnähe und magischer Entrückung, Harmonie und Beunruhigung, der Prägnanz von Formen und dem Verdämmern von Konturen, Organischem und Anorganischem, wenig und reich strukturierten Flächen. Lichtwirkungen und Grauwerte nutzte er bedacht für die Suggerierung bestimmter Stimmungen.
Die Folge der Berliner Stadtansichten entstand im Tiefdruckverfahren (Radierung und Aquatinta). Sie bezeugt nicht nur Richters entwickelten Sinn für Bildregie, sondern aus seine richtungsempfindliche Organisation der Motive, bei der langjährige Wirkungseinsichten verarbeitet worden sind. Er weiß um die unterschiedlichen Ausdrucks- und Stimmungswerte der Seiten, und er beherrscht souverän das Arbeiten auf der Platte im Gegensinn.“
Eine von Richters frühen „Berlinansichten ist das Blatt Museumsinsel bei Nacht vom Kupfergraben aus gesehen. lm Vordergrund markiert die sich auf massigem Sockel erhebende Steinsäule mit der sie bekrönenden Lampenkugel den Zugang zur Monbijoubrücke. Jenseits des Spreekanals lagert das neubarocke Bodemuseum, dem sich das neuklassizistische Pergamonmuseum anschließt.
In einigen Museumsräumen brennt noch Licht, das auf das Leben in den Innenräumen weist. Die erleuchteten Fenster, die erstrahlende Lampenkugel und der tief am Himmel stehende Mond sowie vielfältige Reflexe, die sich auf den Wolken und dem Wasser abzeichnen und das Ufer- und Brückengeländer sowie Basis und Kapitell im Vordergrund plastisch heraustreten lassen, leihen der Stadtlandschaft einen belebenden Glanz.“
Spreeathen I wurde als „Pendant zum ersten Werk der Serie entwickelt. Es zeigt wiederum die Museumsinsel, jetzt aber bei Tage und von der anderen Seite. Der Künstler blickte vom Ufer der Burgstraße, und zwar an der Einmündung zur Neuen Friedrichsbrücke, auf die Nationalgalerie, die Rückseite des Pergamonmuseums sowie auf das hinter der S-Bahnbrücke befindliche Bodemuseum nıit seiner markanten Kuppel.
Rechts im Hintergrund zeichnet sich der Neubau der Charité ab. Auf der Spree transportiert gerade ein Lastkahn Bausand, währenddessen im Vordergrund einige Möwen über das Wasser gleiten und die Helligkeit des hohen Himmels wiederklingen lassen.“
Das Blatt Die Uhr im Lesesaal zeigt „das kriegszerstörte Herzstück der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek (und jetzigen Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Unter den Linden). Der Künstler richtete seinen Blick auf die Reste des von Ernst von Ihne entworfenen oktogonalen Kuppelsaals. Bildbestimmend ist die Uhr, die einst den Wissensdurstigen über sinnvoll genutzte Zeit Auskunft gegeben hat und jetzt nur noch an den grauenvollen Krieg erinnert.
Das Rund des Zifferblattes wird von Ornament- und Mauerstreifen aufgenommen und hallt in einigen Bogenstellungen nach. Ein dunkler Himmel lastet auf der Ruine. Im Vordergrund deuten allerdings Bretterbuden, Betonmischer, Bauholz und Sandberge die begonnene Wiederherstellung des Gebäudes an.“
Im Blatt Berliner Mahnmal „hat Richter die Ruine der Neuen Synagoge wiedergegeben. Die von Edmund Knoblauch und Friedrich August Stüler nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts erbaute Hauptsynagoge der Berliner jüdischen Gemeinde, eine herausragende Leistung deutscher historistischer Architektur, wurde in der Reichskristallnacht vom 9. zum 10. November 1938 zerstört. So sind die hier gezeigten übriggebliebenen Mauern eine steinerne Anklage der Barbarei des Faschismus.
Der Künstler wählte bedacht einen sich neigenden eisigen Wintertag, um die Ruine der Vorsynagoge zu zeigen. Schneereste lassen die Formen hart aus dem Dunkel treten. Das Weiß dringt schrill in den Bildraum und beunruhigt zutiefst. Dächer niedriger Schuppen bilden für das aufgerissene Bauwerk einen breiten Sockel und zugleich auch eine distanzgebietende Zone für den Betrachter. Dort reckt sich wie auch auf der Ruine kahles Geäst empor.“
Auf dem Blatt Drei Grazien führte Richter „ein im Abriss befindliches Gebäude vor Augen, nämlich den alten Friedrichstadtpalast, der einst für die Theater- und Varietégeschichte eine große Rolle gespielt hatte. Aus bautechnischen Gründen wurde das Bauwerk abgetragen. Erinnert die Eisenkonstruktion im Bild an die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Schinkelschüler Friedrich Hitzig erbaute Markthalle, so weisen die sonderbaren Kapitelle – die drei Grazien – auf die fantasievolle Umgestaltung des Gebäudes zum Großen Schauspielhaus, die Hans Poelzig, einer der bedeutendsten Architekten des Expressionismus, vornahm.
Richter hielt, in der Ruine stehend, einen Durchblick zum Theatergebäude des Berliner Ensembles fest, dessen Turm sich vor dem lichten Himmel abzeichnet. Am linken Bildrand breitet hinter einer Eisenstütze ein Baum seine Krone aus. Organisches wird somit gegen Anorganisches und intakte Architektur gegen defekte gestellt. Die flackernde Unruhe in der Ruine, durch nuancenreiches Helldunkel und vielfältige Strukturen betont, wird durch die strengen Parallelläufe der Eisenkonstruktion und des Mauerwerks in eine Ordnung gebannt.“
Dieses Blatt der Folge Berlinansichten zeigt das Neue Museum vom Kupfergraben aus. Richter nannte es Artem non odit nisi ignarus und griff damit „die Inschrift unterhalb des Giebeldreiecks auf. Das von dem Schinkelschüler Friedrich August Stüler in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erbaute spätklassizistische dreigeschossige Gebäude brannte 1945 aus. Die löchrige Fassade, die einen Durchblick gestattet, wirkt unheimlich.
Merkwürdigerweise ist das Giebelrelief mit den Personifikationen der Kunst und des Kunstgewerbes, eine Arbeit des Rauchschülers August Kiss, weitgehend erhalten geblieben. Die kahlen Bäume mit verschiedenartigen Kronen behindern nur wenig die Sicht, aber sie bilden zu den strengen Linien der Architektur einen belebenden Kontrast. Der Bauzaun sowie Ufergeländer und Bürgersteig gehen gleichfalls von dem Gefüge rechter Winkel ab, setzen jedoch den Rhythmus des Helldunkels fort.“
„Die Neue Friedrichsbrücke gestaltete Richter von der Burgstraße aus. Er lenkte dabei den Blick in entgegengesetzter Richtung über die Spree, den mächtigen, von Julius Raschdorff um die Jahrhundertwende gebauten Dom fest ins Auge fassend. Die Kriegsschäden an dem gewaltigen historistischen Bauwerk waren außen schon in den Jahren von 1975 bis 1981 beseitigt worden.
Rechts des Doms ist das von Karl Friedrich Schinkel errichtete Alte Museum zu erkennen, das gleichfalls im Krieg großen Schaden erlitten hatte und dessen Wiedererrichtung ein gutes Beispiel für den pfleglichen Umgang mit dem Kulturerbe bildete. Zu diesen historischen Bauten gesellen sich auf der Darstellung Richters noch zwei Neubauten des Stadtzentrums: der Palast der Republik (inzwischen abgerissen und Standort des Humboldt-Forums) und das Palasthotel (jetzt Hotel Radisson). Die Neue Friedrichsbrücke wirkt wie eine Klammer, die alte und neue Architektur zusammenfasst.“
Der Text wurde veröffentlicht in:
> Lammel, Gisold: Meister des Kupferstichs – Gerenot Richter, Hrsg. von G. Brandler, Edition Schwarz Weiß, Spröda 1997
> Lammel, Gisold: Gerenot Richter, Katalog der Deutschen Bücherstube, Berlin 1987