Für Gerenot Richters Gestaltungskonzeption und Auffassung ist nicht nur die Auseinandersetzung mit der Realität, sondern auch das Studium älterer und zeitgenössischer Kunst belangvoll gewesen. Dass er die Kunstdialoge über anderthalb Jahrzehnte so eingehend und folgenreich geführt hat, mag zum Teil dem schnellen Fluss jener Zeit geschuldet gewesen sein sowie den vielen Angriffen auf die gegenständliche Kunst in unserem Jahrhundert. Eine große Ehrfurcht vor künstlerischen Leistungen verband sich bei ihm mit der Suche nach festen Werten und dem Bestreben, vorhandene Kunsterfahrungen zu begreifen, zu bewahren und weiterzutragen.
Mit den Bezügen auf Kunstwerke voraufgegangener Jahrhunderte hat er Zeitenlauf und eine geschichtliche Dimension angedeutet und dabei dem kunsthistorisch Bewanderten Impulse vermittelt. Bei seinen Kunstdialogen folgte er keinem Schema, sondern er zeigte sich beweglich und geistreich. Zumeist sind seine Zitate verborgen, oft auch nur Randerscheinung. In der Regel sind seine kunstgeschichtlichen „Erinnerungen“ jedoch alles andere als bloße Zutat, sondern vielmehr Wirkstoffe, die das Vordringen in tiefere Bedeutungsschichten befördern und steuern und Denkrichtungen angeben. Seine Kompositionen leben nicht vom Entlehnten, sondern von den geistigen und formalen Spannungen und Verstrebungen, die mit ihm erzeugt worden sind. So hat er den Dialog mit der Kunst und der Realität zu neuer Kunstrealität geführt, in der sich die Sphären mischen.
Richters Kunstrezeptionen, d. h. Zitate, Variationen und Transformationen von Motiven namhafter Künstler, sind seinen ganz persönlichen Kunstbegegnungen und Vorlieben erwachsen. Am häufigsten, intensivsten und umfassendsten setzte er sich mit der Bildwelt und Gestaltungsweise Albrecht Dürers auseinander.
In besonderer Weise schlug sich eine große Ehrfurcht vor diesem Künstler in den vier Blättern „Zu Dürers 450. Todestag“ (1977) nieder sowie auf den Darstellungen „Frühling mit A.D.“ (1982), „D 1500 – Das Meerwunder“ (1985) und „Gleichnis III (Eustachius)“ (1987).
Die querformatigen Kompositionen erstgenannter Folge umfassen ein Stillleben und drei Küstenlandschaften mit Zitaten aus Tiefdrucken des großen Nürnbergers. Mal sind es Bildfiguren oder Gewanddraperien, die aufgenommen worden sind, mal ist auch ein winziges Schiff oder ein fantastisches Tier aus der fernen Bildwelt herübergeholt worden. Mal sind es vorwiegend inhaltliche, mal mehr formale Interessen, die zur Übernahme verleitet haben. Auf dem Blatt „Der Traum“ ist am rechten Bildrand ein Stück von Dürers um 1497 / 1498 geschaffenem „Traum (Versuchung)“ zu sehen, und zwar ein Fuß des Träumers und der auf Stelzen gehende Putto. Bekenntnishaft gab Richter daneben sein Selbstbildnis wieder, nämlich als Spiegelung auf einer großen Glaskugel. Mit Lupe und Radiernadel erscheint er dort, den Betrachter fixierend. Links im Hintergrund deutete er eine eigene Radierung an, die eine alte Weide wiedergibt. Auch hinsichtlich der Erfassung von Stofflichkeit ist Richters „Traum“ ein Meisterstück.
Auf einem anderen Blatt der Folge, „Melencolia“ genannt, bildet das faltige Gewand der Melancholie aus Dürers 1514 entstandenem Meisterstich eine Steilküste, deren Furchungen und Verwerfungen mit dem im Vordergrund barrierenartig lagernden Treibholz korrespondieren. Der Schoß von Dürers Bildfigur lässt hier an die Mutter Erde denken, andererseits auch an Landschafts- und Objektverhüllungen Christos, so an dessen Verpackung eines zwei Kilometer langen Küstenstreifens bei Sidney. Hoch am dunklen Himmel fliegt jenes fledermausähnliche Tier aus demselben Stich Dürers.
Auf einem weiteren Blatt der Folge, Richter hat es „Das große und das kleine Glück“ bezeichnet, ist hingegen nur ein im Winde wehendes Tuch, das um einen in der Erde der Steilküste steckenden Stock gewunden ist, Dürer verpflichtet, nämlich den reich drapierten Tüchern auf den Kupferstichen „Nemesis oder das Große Glück“ (um 1501/1502) und „Fortuna oder das Kleine Glück“ (um 1496).
Richter setzte das Zitierte in Beziehung zu einem am Strand liegenden Liebespaar, einem anderen kleinen oder großen Glück. Das vierte Blatt der Folge, es trägt den Titel „Meerwunder“, enthält im Mittelgrund drei Badende und eine am Ufer Lagernde sowie ein Segelschiff in der Ferne als Zitate aus Dürers „Meerwunder“ (um 1498). Der Bildbetrachter blickt auf die schönen Frauen und vergisst das faszinierende Motiv mit der am knorrigen Stamm hängenden Kamera aufzunehmen. Hier zitierte Richter mit ironischem Augenzwinkern.
Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch etwas zu der fünf Jahre nach der Folge angefertigten Kaltnadelradierung „Frühling mit A.D.“ gesagt. Hier tritt nun der Betrachter vor das Fenster und begegnet dem Blick eines Dudelsackpfeifers, der da am kahlen Baum lehnt und volkstümliche Weisen spielt. Er entstammt dem frühen 16. Jahrhundert, genauer gesagt, einem Stich Dürers aus dem Jahre 1514. Es handelt sich gewissermaßen um eine Kunstbegegnung in doppelter Weise: mit einem Musizierenden und zugleich mit einer Kunstfigur.
Die zunächst sonderbar anmutende Gestalt bringt sozusagen ein Ständchen, grüßt aus der Vergangenheit herüber. Oder weist sie auf den Abgesang alles Überlebten, oder verabschiedet sie nur den Winter? Oder kündet sie „Neues“ im alten Gewande an? Auf sonnigem Fensterbrett stehen blühender Ritterstern und treibender Rhabarber, daneben windet sich ein dürres Blatt aus dem verwichenen Jahr, Zeitlichkeit und Vergänglichkeit andeutend. Daneben liegt ein Schneckenhaus als Sinnbild der Geborgenheit. Das Stillleben beschreibt im Vordergrund eine Wellenlinie, die nach Auffassung des englischen Malers und Grafikers William Hogarth die Linie der Schönheit ist.
Natürlich steht dieser Fensterausblick in einer langen künstlerischen Tradition. Im 19. Jahrhundert kamen sogenannte Fensterbilder häufig vor. Und damals wie heute wird mit dem in ihnen gestalteten Verhältnis von Innenraum und Außenwelt auch das von Individuum und gesellschaftlicher wie natürlicher Umwelt reflektiert. Häufig wurden gerade mit dem Motiv des geöffneten Fensters Hoffnungen und Sehnsüchte angedeutet. Auch diese Radierung lässt sie anklingen und darüber hinaus Freude über einsetzende Erneuerung, die der beginnende Frühling verheißt. Richter machte hier das Dürerzitat zum Angelpunkt der Komposition. Schon nach flüchtigem Blick wird die entliehene Bildfigur be- und hinterfragt. Sie bewirkt die seltsame Begegnung und lässt an ein historisches Genrebild denken.
Außer Dürer zogen Richter auch noch andere namhafte Künstler jener Zeit in ihren Bann, so Martin Schongauer und Albrecht Altdorfer. Einen stillebenartigen Naturausschnitt nannte er „Für M. S.“. Dort erscheint ganz unauffällig links unten im Bild eine winzige Fantasiegestalt, die sich an das lanzettförmige Blatt der Blumenstaude klammert. Sie ist, leicht abgewandelt, Schongauers Kupferstich „Heiliger Antonius, von Dämonen gepeinigt“ (1473) entlehnt.
Anlässlich von Altdorfers 450. Todestag radierte Richter die kleine Kupferplatte „Verneigung“ (1988). Der Titel deutet nicht nur die Ehrerbietung an, sondern bezieht sich vor allem auf das Hauptmotiv der dargestellten Landschaft, auf den sich neigenden alten Baum, unter den ein Altdorferscher Putto den Schild mit dem Signet des Geehrten hält. Kurz nach Fertigstellung hat Richter geklagt: „A. A. war eine Quälerei, da ich eine Mischung aus Kopie und freier Nachgestaltung versuchte.“
Neben Dürer hat ihn der Malerphilosoph Pieter Bruegel d. Ä. am meisten fasziniert. Vor allem dessen Auffassung von der Landschaft als Gleichnis vom beständigen Werden und Vergehen erregte sein Interesse, aber auch die einprägsamen und plastisch-prägnant geformten Bildfiguren und das Schalten und Walten mit Verfremdungen und Raumbildungen hatten es ihm angetan.
Entnahm Richter für seine großformatige Komposition „Ging heut' morgen übers Feld (Gustav Mahler 1884)“ Bildfiguren aus den jetzt in Wien befindlichen Gemälden „Der Kampf zwischen Karneval und Fasten“ und „Bauernhochzeit", so zitierte er auf der Radierung „Manneken Pis“ (1986) einen das Wasser Abschlagenden aus den „Zwölf Sprichwörtern“ (zwölf Rundbilder auf einer Holztafel, um 1560, Antwerpen, Museum Mayer van den Bergh). Aber während auf der Darstellung des Niederländers die Figur den Strahl auf die Sichel des zunehmenden Mondes richtet und auf diese Weise ein altes Sprichwort verbildlicht, das die Pechsträhne eines Mannes beklagt, zeigt das Bild Richters diese Gestalt im Mittelgrund einer Landschaft mit knorrigen Baumriesen, mit leiser Ironie Kreisläufe allen Lebens andeutend.
Der Text wurde entnommen aus:
Lammel, Gisold., Meister des Kupferstichs – Gerenot Richter
Hrsg. von G. Brandler, Edition Schwarz Weiß, Spröda 1997