Gerenot Richters künstlerische Entwicklung

Datum: 02.06.1997

Zur künstlerischen Entwicklung, Auffassung und Gestaltungsweise

Seine Lehrer Reinhold Langer, Hermann Bruse, Heinrich Burkhardt und Fritz Dähn, um nur die wichtigsten zu nennen, haben seine Bildsprache kaum beeinflusst. Das meiste verdankte Gerenot Richter dem Studium von Natur und älterer Kunst. Daneben verarbeitete er Anregungen aus Wissenschaft und den Künsten. Da er auch Geografie studiert hatte, behielt er einen wachen Blick für das Gebautsein eines Landschaftsraums und die Beschaffenheit von Gestein.

Nicht unerwähnt darf hier seine enge Verbindung zur Musik bleiben. Er spielte Geige und gelangte mitunter zu Bildstrukturen, die auch an Tondichtungen erinnerten. Gelegentlich gab er Musizierende wieder und ehrte Komponisten wie Beethoven und Mahler in Bildern. Besonders gern hörte er Werke von Wagner (vor allem den „Ring“), Mahler und Bach.

Seine Bildauffassung wandelte sich im Laufe der Jahre. Um 1970 entstanden vornehmlich statische, mittelgrundbetonte, erzählerische und romantisierende Landschaften, um 1974 / 1975 vor allem dynamische Kompositionen, die deutlich Prozesshaftes reflektierten und in denen lange parallele Strichbahnen Bewegung suggerierten.

In der Folgezeit, der Zeit der Reife, herrschten dann die stillen, detailreichen, vordergrundbetonten Bildräume vor, in denen Stofflichkeit und Formenvariation in bis dahin nicht gekannter Reichhaltigkeit erschienen und sich seine Neigung zum Horror vacui entfaltete. Zudem regte sich in steigendem Maße das Interesse für spannungsvolle Kompositionen und weitergehende Differenzierung der Wertigkeit unterschiedlicher Bildelemente. Am Ende seines Schaffens versuchte er, die Formenfülle zu reduzieren und mehr Leerflächen in die Bildrechnung einzubeziehen.

Mitte der 1970er Jahre hatte Gerenot Richter seine Kunstkonzeption ausgebildet. Alles, was er vordem geschaffen hatte, war, an Späterem gemessen, nur Erkundung von Gestaltungsmöglichkeiten und Suchen einer ihm gemäßen Ausdrucksweise. Er erreichte dieses Ziel in einem Prozess großer produktiver Anspannung und durch die schon erwähnte Beschränkung auf den Tiefdruck.

Die Folgen „Strandläufer“ (1976 / 1977 und 1981), „Zum 450. Todestag Dürers“ (1977) und Einzelblätter wie „Fossile Braunkohle“ (1977) und „Am Bodden bei Niehagen“ (1978) standen am Beginn seiner reifen Zeit. Die Folgen „Nach dem Sturm“ (1980 / 1982) und die „Großen Gleichnisse“ (seit 1983) markierten dann die Gipfellinie seines Schaffens.

Vorliebe für Bildreihen

Richters Vorliebe für Bilderreihen ist unübersehbar. Allerdings verzahnte er die einzelnen Darstellungen nicht so miteinander, dass die Herausnahme oder Hinzufügung eines Bildes undenkbar gewesen wäre. Die Verstrebungen der Kompositionen zum komplexen Werk waren also zumeist recht locker. Mithin ging es ihm mehr um Bilderfolgen als um Bilderzyklen, denn letzteren liegt eine konzentrierte Regie und Dramaturgie zugrunde, die eine schlüssige und abgerundete Einheit bewirkt. Dennoch hat es natürlich in Richters Bilderfolgen immer auch übergreifende Gesichtspunkte gegeben.

Seine Arbeiten offenbaren ein reges Wechselverhältnis von Bewußtem und Unbewußtem. Zwar begegnen wir durchdachten, aber keineswegs ausgeklügelten und bis ins letzte ausgetüftelten Bildlösungen. Seine Fabulierkunst hat sich nicht ins Joch spannen lassen. Deshalb übertrug er niemals unverändert eine Zeichnung auf die Druckplatte.

Folgte seine Bildgestaltung auch keinem festen Plan, so zeigte sie doch Vorlieben, so beispielsweise die für Nahsichtlandschaften mit stillebenhaft ausgeformtem Vordergrund, der sich barrierenartig über die gesamte Bildbreite entwickelt und den Bildraum schwer zugänglich macht. Des öfteren begegnen wir auch einer dualistischen Raumstruktur, die mit einer auffälligen Mittelgrundschwächung verbunden ist. Seine Bildräume folgen keiner Zentralperspektive. Bildtiefe erzielte er durch Überschneidung, Überdeckung und Staffelung von Formen.

Hang zu irritierender Kombinatorik

Seine Bildschöpfungen weisen mitunter eine irritierende Kombinatorik auf. Dabei hat er immer vermocht, scheinbar Disparates zu höherer geistiger Bedeutsamkeit und stimmungshaftem Bildganzen zu bringen. Freilich ist es manchmal gar nicht so leicht, im kunstvollen Dickicht der Formen den Schlüssel zum Bild ausfindig zu machen. Menschen erscheinen in seinen Bildräumen zumeist recht klein und als Teil eines großen Ganzen. Sie drängen nicht aus dem Bild, sie sind unterwegs oder verharren und deuten Beziehungen zur Umwelt an.

Die Tendenz zur feinen Durchbildung des einzelnen ist bei seinen Grafiken ebenso auffällig wie die Zusammendrängung vieler Einzelheiten. Die dichte Versammlung der Formen nimmt oft das gesamte Bildfeld in Anspruch und offenbart dabei einen feinen Sinn für ornamentale Wirkungen. Seine Kompositionen durchströmt ein eigener Rhythmus, der dem Einordnen aller Teile unter eine Gesamtwirkung dienlich ist.

Die Rhythmisierung von Strichen und Liniengefügen verdichtet, vertieft, schafft Umrißverwandtes, stellt Formenbezüge her und erfasst die vielgestaltigen Strukturen seiner gegenständlichen Welt. Besagte Strukturen geben nicht nur Auskunft über Formenverlauf, Oberflächenbeschaffenheit und Aufbau des Materials, sondern helfen mit, bestimmte Stimmungswerte zu erzeugen. Oft schwelgte Richter förmlich in verkräuselten und sich windenden Linien, komplizierten Strichgefügen und subtilen Abstufungen von Tonwerten.

Vom Kupferstich beeinflusste Radiertechnik

Gerenot Richter hat sich eine vom Kupferstich der deutschen Renaissance beeinflusste Radiertechnik zu eigen gemacht. Seine Bilder webte er nicht mit einem einheitlichen Raster von Strichen oder Punkten, sondern er benutzte vielfältigere grafische Elemente. Dadurch hat er den verweilenden Augen reichliche Nahrung geboten.

Die Auseinandersetzung mit der Kunst der „Dürerzeit“ führte ihn zur Erweiterung und Perfektionierung eigener grafischer Mittel. Auf diesem Wege gelangte er zur Charakterisierung von Materialität und zur abstrakten Füllung der Felder zwischen den Gegenständen, zu Möglichkeiten der Schaffung von formklärenden Tonwerten sowie der rhythmischen Einbindung der Details ins Bildganze. Meist ging er bei der Gestaltung von Strukturen mit Konturlinien mit und deutete so Ausdehnung, Wachstum und Bewegung an. Gelegentlich ließ er aber auch Strichgefüge sich gegen diese Konturlinien stemmen, somit eine zusätzliche Spannung bewirkend.

Sehr oft bezog Gerenot Richter die Aquatinta in die Gestaltung ein, um einerseits durch Zurücknahme von Detailhärten eine stärkere Vereinheitlichung der Teile zu erwirken, andererseits, um atmosphärische Wirkungen und Stimmungswerte einzubringen. Weder Effekthascherei noch leichtfertiger Verzicht auf Formenklärung bestimmten dabei sein Tun. Auch wenn er von vornherein die Aquatintatönung in seine erwünschte Bildwirkung einbezog, erfasste er zunächst alle Elemente fest und klar, wissend, dass viele der Linien und Strukturen dann verdämmern oder sogar völlig verschwinden.


Dieser Text wurde entnommen aus: Lammel, G., Meister des Kupferstichs – Gerenot Richter
Hrsg. von G. Brandler, Edition Schwarz Weiß, Spröda 1997