II-188 Gleichnis I
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884)
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel)
II-222 Gleichnis II (Die Blinden)
II-263 Gleichnis III (Eustachius)
II-282 Begegnung (Bremer Iris)
II-304 Herbstlicht
Die gesamte Folge oder einzelne Blätter daraus befinden sich in folgenden Sammlungen:
Auszüge aus einem Text von Gisold Lammel
Richter befand sich bereits im sechsten Lebensjahrzehnt, als er an jene sechs Darstellungen ging und verfügte „über einen stattlichen Fundus an handwerklich-technischen Erfahrungen im Bereich des Tiefdrucks und über eine reiche Praxis beim Gestalten von Landschaftsbildern. So nimmt es nicht wunder, dass er Lust verspürte, sich weitere, ihn fordernde Aufgaben vorzunehmen, und zwar das große Format und die noch komplexere Sicht auf das Verhältnis von Natur, Kultur und Mensch im Landschaftsbild. Die Sicherheit bei der Nutzung spezifischer Möglichkeiten der Radierkunst und die ihn weitertreibende Bildphantasie bewogen ihn, sozusagen nach den vielen kammermusikalischen Stücken nun einige sinfonische Dichtungen zu schaffen.“
Die großen Gleichnisse enthalten „Bildfiguren sowie Zitate, die eine jahrhundertelange Entwicklung von Kunst und Kultur andeuten. Diese Blätter bilden gewissermaßen die Quersumme von Richters Schaffen und sind mithin für ihn das, was für Dürer die Meisterstiche gewesen sind. Aus ihnen spricht der besorgte Künstler, den eine tiefe Liebe zu Natur, Mensch und Kunst erfüllt hat. Ganz persönliche Erlebnisse in unterschiedlichen Landschaftsräumen sowie in und vor architektonischen Denkmälern und in Museen fügte er zur paysage moralisé. Er hat demzufolge dem Ästhetischen das Ethische hinzugegeben, und immer ist hinter der Bildrealität auch eine gemeinte Wirklichkeit verborgen.
[…]
Richters große gleichnis- und sinnbildhafte Bilder sind in einer Kombination von Ätzradierung und Aquatinta geschaffen worden. Zweifellos war ein sehr hohes Maß an Beharrlichkeit, ja geradezu Besessenheit vonnöten, um bei seiner Gestaltungsweise diese doch beachtlichen Plattengrößen zu bewältigen. Er bezog die Aquatinta ein, um einerseits durch die Zurücknahme von Detailhärten eine stärkere Vereinheitlichung der Teile zu erwirken, andrerseits aber auch, um atmosphärische Wirkungen und Stimmungswerte einzubringen.“
[…]
„Die hier erörterten Gleichnisse und Sinnbilder entstammten Richters Erfahrungsbereich. Aus verschiedenen Sphären entnahm er Anregungen und ließ sie in komplexe Bilder einmünden, die im übrigen auch mit ihren historisierenden Elementen auf den Ton der Zeit gestimmt sind. Besonders wichtig wurden für seine Bildfindungen Erlebnisse in der Natur. Doch die der Realität entnommenen Motive sind von ihm umgeprägt worden, so dass sie sich in die paysage composé fügen, sich den gedanklichen und formalen Strukturen anpassen.
Daneben spielten kunstgeschichtliche Erinnerungen eine große Rolle. Er führte seine Kunstdialoge recht verschiedenartig. Gelegentlich, so bei dem Gleichnis I, ist eine Umformung und Anverwandlung, vagen Erinnerungen folgend, vorgenommen worden. Häufiger jedoch, so bei den übrigen Kompositionen der Reihe, begegnet [uns] das Zitat, das heißt der erkennbar eingefügte Teil aus dem Werk eines anderen.
Das Zitierte erhält somit einen neuen Zusammenhang und erweitert die Aussage. Oft bleibt es auch das Andersartige, so dass eine antithetische Struktur betont wird. Dass Zitiertes und Variiertes aneinandergefügt worden sind wie beim Blumenstück der Begegnung (Bremer Iris), ist hingegen seltener in seiner Kunst zu finden. Nur zwei der sechs Großen Gleichnisse enthalten Bezugnahmen auf Teile mehrerer Vorbilder, damit auch auf Entwicklung weisend. Die besagten Arbeiten weisen eine eigentümliche Kombinatorik auf. Dabei hat Richter auch das scheinbar Disparate zu höherer Bedeutsamkeit und stimmungshaftem Bildganzen gebracht.
Nicht nur mit seinen Kunstrezeptionen und dem damit zumeist verbundenen Sprung durch die Jahrhunderte hat er für Irritationen gesorgt, sondern ebenso durch seinen freien Umgang mit Größenverhältnissen, so im Gleichnis I, in dem sich das Liebespaar im Vergleich zu den Pestwurzblättern winzig ausnimmt, oder im Gleichnis III (Eustachius), in dem die Nischenfigur der Schlossruine genauso überdimensioniert erscheint wie die sich ins Bild schiebenden Pestwurzsprosse. Aber auch die lupennahe Ausformung aller Details im Hintergrund und die künstliche Lichtführung, die das jeweilige Bild gliedert und rhythmisiert sowie Formen klärt und hervorhebt, bewirken gewisse Verunsicherungen.“
Hier spielen „Gedanken über das Geben und Nehmen in der Natur wie über das Leben nach einer Katastrophe eine Rolle. Zu beiden Seiten des Vordergrundes ragen Baumfragmente in den Bildraum: Da krallt sich ein Stumpf mit teilweise unterspülten Wurzeln in den kargen Hang, und da liegt eine abgerissene Krone auf ihrem sperrigen Geäst. Aber die beiden Fichtentorsi gehören nicht zueinander. Die von ihnen getrennten Teile sind dort anzunehmen, wo der Künstler stand und sich nun der Betrachter befindet.
Und wenn sich das Auge an dem Gitterwerk der Sturmopfer vorbei nach hinten drängt, gelangt es zu den Überresten einer den Alterstod gestorbenen Weide. Ein Teil ihres auseinanderklaffenden morschen Stammes hat sich zum Boden geneigt und dabei einen weiten Torbogen gebildet, durch den der Blick zu einer friedlichen Boddenlandschaft geleitet wird, zu einer übers Wasser schauenden Frau am Ufer, zu Möwen und Booten sowie zu einigen von Bäumen umstandenen Häusern. Diese Miniatur, gewissermaßen ein winziges Bild im Bilde, steht im Gegensatz zu der durch den Sturm gezeichneten Landschaft des Vordergrunds. Aber auch hier zeigt sich wiederum ein Kontrast zwischen den zerstörten Bäumen und der sich ungestört am Boden ausbreitenden vielgestaltigen Vegetation, in der ein Liebespaar Schutz gesucht hat. Ein Vogel, hoch oben im toten Geäst sitzend, zwei sich in den unteren Bildecken tummelnde Schmetterlinge sowie die sich auf hügeligem Terrain reckenden Kiefern, die den Sturm überlebt haben, mildern gleichfalls die Klage um das jäh beendete Leben. Das erwähnte kleine Getier, das gar nicht so leicht zu bemerken ist, soll nicht nur einen versöhnlich-heiteren Klang bewirken, sondern auch ganz einfach mit seiner eigenartigen Schönheit die Randzonen des Bildes bereichern und beleben.
Ausgangspunkt für diese Komposition waren Erinnerungen an Aufenthalte auf dem Darß und im Nordhäuser Park von Hohenrode nach der Sturmkatastrophe von 1980. Somit bildet sie eine enge Verbindung zur Folge Nach dem Sturm. Die ganz dem Liebesrausch Ergebenen im Bild erinnern an jene deftig-sinnlichen Paare, die der italienische Bildhauer Giacomo Manzù in den sechziger Jahren geschaffen hat“.
Dieses komplexe Bild schließt die Verehrung von Komponisten und Malern sowie die Erinnerung an eine Studienreise nach Österreich und die Meditation über existentielle Fragen ein. Er hat es zu Ehren des genialen österreichischen Komponisten Gustav Mahler geschaffen, der hundert Jahre zuvor das Lied Ging heut’ morgen übers Feld komponierte.
Richter beeindruckte Mahlers Neigung zu Romantisch-Volksliedhaftem, Verinnerlichtem und großartig Panoramischem. Außer dem Titel der Radierung werden zwei deutliche Hinweise auf die Hommage gegeben: Rechts von der sich übers ganze Blatt reckenden Baumruine ist das von Josef Hoffmann entworfene Grabmal Mahlers zu sehen, das Richter auf dem Grinzinger Friedhof besucht hat, und im Hintergrund der linken Bildhälfte ragen hinter Bäumen die Türme des barocken Stifts St. Florian empor, in dem einst einer der Lehrer Mahlers, der Komponist Anton Bruckner, tätig gewesen ist und dort seine Grabstätte gefunden hat.
Neben Musikschaffenden erfahren auch bildende Künstler eine Würdigung, und zwar durch eine Reihe von Zitaten aus Gemälden, die sich in Wiener Museen befinden. Ein Paar, das auf der linken Bildhälfte in die Tiefe schreitet, die daneben hantierende Waffelbäckerin und links dahinter in einer Höhle ihr Mahl Einnehmende entstammen Pieter Bruegels Kampf zwischen Karneval und Fasten und der Bauernhochzeit. Darunter geben einige Pestwurzblätter des Vordergrunds den Blick auf ein sich liebendes Paar frei, das Egon Schiele gemalt hat, und ganz am rechten Bildrand erscheint ein Teil des geheimnisvollen Baumes aus René Magrittes Stimme des Blutes. Mit dieser Auswahl erwies er drei bedeutenden bildenden Künstlern seine Reverenz.
An den Bildschöpfungen dieser Gestaltungsmächtigen haben ihn unterschiedliche Elemente interessiert, so die großartige, gedankenreiche Weltlandschaft des Niederländers Bruegel, der leidenschaftliche ornamental-graphische Stil des Österreichers Schiele und das Surreale sowie der bildhafte Witz in der Kunst des Belgiers Magritte. Künstlerisches Schaffen steht hier für menschliches Schöpfertum schlechthin. Indem verschiedenes Menschenwerk unterschiedlicher Epochen ins Bild genommen worden ist, wird auch die geschichtliche Dimension angedeutet. So erscheinen die Figuren Bruegels im Kostüm der Spätrenaissance, die Klosteranlage aus dem Barock, das Grabdenkmal aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Doch auch Ewigmenschliches klingt an, besonders in dem nackten Liebespaar.
Diese Komposition enthält vielfältige Gegenüberstellungen. Der gestorbene Baum, der da den goldenen Schnitt markiert und mit knorrigen kahlen Ästen gespenstisch über das Bild greift, steht inmitten üppiger Vegetation, Tod und Leben andeutend, wie der Grabstein und das Liebespaar. Doch der etwas wehmütig stimmende tote Baum ist für sich genommen schon Symbol der Vergänglichkeit und Wiedergeburt, der Metamorphose. Einmal verwest, wird er neuer Vegetation dienlich sein. Und vielleicht wird dieser Gedanke durch die Formgebung des toten Holzes aufgenommen, das an einen Kruzifixus erinnert. Suggerieren die Gebirgsmassive im Hintergrund Dauer und Festigkeit, so die am schmalen Himmelsstreifen sich ballenden Wolken Veränderlichkeit, Weichheit und Leichtigkeit. Organisches und Anorganisches in der Natur stehen sich gegenüber und sind wiederum durch gemeinsame Strukturen, umrißverwandte Formen u.a.m. aufs engste miteinander verbunden. Widerspruchsvolle Verhältnisse sind besonders durch den recht freien Umgang mit Größenverhältnissen angedeutet.
Vordergrundstilleben und dahinter liegende Landschaften bilden in der Komposition ein Ganzes. Das magische Licht morgendlicher Sonne, das die Berge streift und den Fingerhut in vorderster Bildschicht aufleuchten läßt, schafft einmal mehr eine Korrespondenz der Raumgründe. In dieser Arbeit begegnet dem Betrachter eine gesteigerte Tastbarkeit der Objekte. Bei aller Liebe für Strukturen und Stofflichkeit ist jedoch Richter nicht im Gestrüpp von Details hängengeblieben, und seine Hingabe an die Natur und seine phantasievolle Kombinatorik haben nie die Grenzen der künstlerischen Gestaltung überschritten. Das Bildgefüge erinnert im übrigen etwas an die labile Tektonik der Symphonien Mahlers, wie ja auch die grotesken Zuckungen und das krause Linienwerk im Schaffen beider zu finden sind.
Es muss Richter ein großes Bedürfnis gewesen sein, diesen Komponisten zu ehren, auch wenn dessen Hauptthema, der Mensch im Alleinsein und Ausgesetztsein, nicht sein ganzes Weltverhältnis ausgemacht hat. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Richter ein knappes Jahrfünft nach dieser Arbeit sich erneut auf ein Werk Gustav Mahlers bezogen hat, als er eine Serie von zwölf kleineren und mit kalter Nadel radierten Landschaften unter dem Titel ... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz zusammengefasst hat. Diese Worte sind einem von Hans Bethge aus dem Chinesischen ins Deutsche übertragenen Gedicht entnommen, das Mahler in seiner Symphonie Das Lied von der Erde vertont hat.“
In dieser „großformatigen gleichnishaften Darstellung ehrte Richter einen bildenden Künstler in besonderem Maße.“ Er hat hier „das alte Gleichnis vom guten und vom schlechten Hirten aufgegriffen (Joh. 10, l2), indem er den Mietling zeigt, wie er verantwortungslos dem Wolf das Feld räumt und die ihm anvertrauten Schafe im Stich läßt. Die Szene spielt in einer Landschaft mit niedrigem Horizont, die gleichsam Resonanzfeld und Bedeutungsraum für das dramatische Geschehen bildet. Zerspellte und abgestorbene Bäume deuten ebenso die Katastrophe an wie die Trümmer eines Wagens. Die Welt ist, wie es scheint, hier aus den Fugen. Selbst im Tierreich kommt es zu abnormen Reaktionen: Da schlummert doch links im Vordergrund eine Katze im Grase und kümmert sich nicht um die vor ihrer Nase herumlaufende Maus. Eine merkwürdige Stimmung geht von dem Blatt aus. Im Zentrum ist eine sonderbare, bedrohlich wirkende graue Leere zu sehen, die sich zu einem Feld knisternder Spannung zwischen den Zeichen der Zerstörung und Lebensfähigkeit ausweitet. Eigenartig mutet gleichfalls die schmale Raumbühne an, auf der die jähe Bewegung des in die Tiefe weisenden ruinösen Gefährts sogleich von dem knorrigen Baumriesen aufgenommen und aufwärts geleitet wird, um sich im wundersam verschlungenen Geäst der Krone zu verlieren. Und das rechts der Bildachse befindliche Rad zieht wiederum Bewegungsströme des gebrochenen Baums zusammen und leitet das Auge zum fliehenden Hirten. Die Gräser wirken wie ein Nachhall auf die großen Linien der Komposition und als Ganzes genommen auch als eine Zusammenfassung. Das Blatt ist voller Gegensätze und Korrespondenzen. Der zersplitterte Baum, dessen Faserbündel wie Blitze niederfahren - ein Bild jäher Vernichtung -, steht im Kontrast zu den beiden Baumtorsi wie zu der weit ausladenden Eiche, die das Vergehen und Weiterleben in der Natur anklingen lassen. Hat Richter das zersplitternde Holz schrill und hart ins Bild gebracht, so den mächtigen Baum auf der anderen Seite in gedämpftes Licht gehüllt, aus dem Äste und Zweige vorstoßen und in das sich andere verlieren. Kostbare Strukturen deuten nicht nur Stofflichkeit und Aufbau des Materials an, sondern ebenso Formenverläufe und sie nehmen Bezug auf die Bewegungsströme im Bild.
Inhaltlicher wie formaler Angelpunkt ist der Hirte, der sich hell vom lastenden Grau des Himmels abhebt. Er trägt eine merkwürdige Tracht aus längst vergangener Zeit. Und in der Tat, mit dieser Figur hat es eine besondere Bewandtnis: Sie ist Pieter Bruegels Gemälde „Der ungetreue Hirt“ entlehnt (Philadelphia Museum of Art, Philadelphia, Sammlung John G. Johnson). Auch der Wolf in der Schafsherde am rechten Rand der Radierung erinnert an das Gemälde des niederländischen Malerphilosophen. Und dennoch schuf Richter hier keine historische Landschaft, die sozusagen Landleben des 16. Jahrhunderts vor Augen führt, vielmehr eine „paysage moralisé“, die ein Problem von weitreichender Bedeutung berührt: das verantwortungsvolle Sichstellen jedweder Bedrohung. Fliehen vor Gefahren und Schwierigkeiten oder sich für eine gute Sache einsetzen, das ist hier die Frage, die gleichnishaft und mit Hinweisen auf den genialen Bruegel gestellt worden ist. Vielfältige Bezüge sind möglich: zunächst zur Nachkriegszeit, die - wie Richter bekannt hat - ein klarsichtiges und pflichtbewußtes Engagement zum Wiederaufbau erforderte. Dann ist an die gegenwärtigen Bedrohungen durch Kriege und Gefährdungen der Natur durch leichtfertigen Umgang mit ihr zu denken. Und schließlich erinnert das Zitierte an ein Problem, das in der Menschheitsentwicklung immer Geltung besessen hat“.
Mit diesem Blatt äußerte Richter „seinen Unmut über die Blindheit von Menschen gegenüber kulturellen Werten. Er hat in dieser Komposition die Vergänglichkeit des Menschenwerks der sich immer wieder erneuernden Natur gegenübergestellt. Der Betrachter steht in einer Ruine und blickt über die verfallene Terrasse und Treppe auf die verwilderte Parklandschaft, in der sich zwei junge Frauen entkleidet haben, um sich zu sonnen. Fragen drängen sich auf: War es blinde Zerstörungswut, die hier das Bauwerk schändete, oder waren es Blindheit und Gleichgültigkeit gegenüber kulturellen Werten, die Villa und Park verkommen ließen? Wer waren die mit Blindheit Geschlagenen? Und deuten die beiden lebensfrohen Akte vielleicht an, dass sich Menschen sehr leicht an den Anblick von Verwahrlostem gewöhnen können?
Die beiden im Grase Lagernden stehen in einem gewissen Gegensatz zu jenen sonderbaren Gestalten in der rechten Hälfte des Mittelgrundes, die nur schwer hinter dem Rhododendronstrauch und den beiden hoch aufragenden Silberdisteln wahrzunehmen sind. Es handelt sich um vier in Gewänder des 16. Jahrhunderts gehüllte Männer, von denen einer, und zwar der Anführer, bereits rücklings am Boden liegt und über den der Nachdrängende gerade strauchelt, während die beiden übrigen unsicheren Schrittes, stolpernd und tastend, dem Fallenden und Gefallenen folgen. Diese merkwürdige Gruppe entstammt dem berühmten Bild Der Sturz der Blinden (1568, Neapel, Galleria Nazionale) von Pieter Bruegel.
Mit ein wenig Ironie ließ Richter die zitierten blinden Männer von den sonnesuchenden Frauen wegstreben und hinschlagen. Hier treffen sich aber auch das Idyllische und das Tragische, klingt mit den zeitlosen Akten und den zeitlich charakterisierten Männern die Langlebigkeit von bestimmten Verhaltensstrukturen an und begegnet eine Konstellation der Figurengruppen, die auch als Nebeneinander-Hinleben deutbar ist. Die Gedankengänge können jedoch noch weitergeführt werden, indem das Zitat zu der verlotterten Villa und dem vernachlässigten Landschaftsgarten in Bezug gesetzt wird. Ist vielleicht, so gesehen, der Zug der Blinden, dieses Beispiel des Irrens wie der Torheit, eine sarkastisch gemeinte Parallelerscheinung zu einer Objektbegehung von Stadtvätern in unseren Tagen? Und kommen wirklich alle mit Blindheit Geschlagenen zu Fall? Im zitierten Blindenzug hat der gerade Fallende sein Gesicht dem Betrachter zugewendet. So schließen sich das Beziehungsgefüge und der Kreis der Fragen.
Hat der Betrachter das Zitat entdeckt, so erhält die fallende Diagonale, die mit den Gestalten beschrieben wird, durch die Architekturteile und Architekturfragmente eine übermächtige Verstärkung. Dann wird die Treppe um so sinnfälliger in ihrer Abwärtsbewegung begriffen.
Die Komposition als Ganzes stiftet Unruhe. Die aggressiven harten und winkligen Formen des ruinösen Bauwerks werden nur geringfügig durch das Blättermeer der Pflanzen und Sträucher gedämmt, obgleich dann einige Stämme der die Lichtung säumenden und den Bildraum abriegelnden Bäume die vertikalen Linien des Vordergrunds aufnehmen und eine gewisse Bildstabilität bewirken. Dennoch setzt sich die Unruhe bis in die vielgestaltigen, zerfaserten Baumkronen fort, die nur wenig vom Himmelsstreifen freigeben. Eine betonte Waagerechte, die festen Halt geben könnte, fehlt. So ist es von der Bildregie her schlüssig, dass einige der Bildfiguren zu Fall kommen; so hat Richter eine sinnlich-gedankliche Einheit herbeigeführt.
Die Bildidee für diese Grafik war Richter beim Anblick des Nordhäuser Parks von Hohenrode gekommen. Einige der dort angefertigten Teilstudien zog er für diese Arbeit heran.“
Ein Bild über „Nach- und Umdenken angesichts eines überwältigenden Erlebnisses. Für Richter war der Ausgangspunkt für diese Komposition das Gewahrwerden eines entwurzelten Baumes, der völlig gesund und wie von Geisterhand aus dem Erdreich gerissen schien. Diese für ihn unfassbare Situation setzte er in Bezug zu jener Begegnung, die Eustachius, der Heermeister des römischen Kaisers Trajan, einer Legende zufolge auf die Knie zwang.
Die Parallele deutete Richter mit einem Zitat aus dem Kupferstich Der Heilige Eustachius (um 1500 / 1502) von Albrecht Dürer an. Auf dem Blatt des bedeutendsten deutschen Renaissancekünstlers ist dargestellt, wie der auf der Jagd befindliche Eustachius vor einem Hirsch kniet, da er zwischen dessen Geweih ein Kreuz erblickt. Nach der Überlieferung soll der Feldherr auf Grund dieser Erscheinung zum Christentum bekehrt worden sein. Richter hat jedoch diese Szene weggelassen und nur einen Teil der Landschaft in die Komposition eingefügt, und zwar den rechts im Hintergrund aufragenden und von einer Burg bekrönten Berg. Das im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund gedrängte Zitat, das eine völlig intakte und harmonisch auf die felsigen Hänge gebaute Architektur wiedergibt, steht im Gegensatz zu der Ruine und dem entwurzelten Baum des Mittelgrunds. So führt das Bild gut erhaltenes und zerstörtes Menschenwerk sowie gedeihende und zugrunde gehende Natur vor Augen. Dabei wird die Frage offengelassen, ob das Vergehen in dieser Bilderwelt von der Zeit oder von einer von Menschen verursachten Katastrophe hervorgerufen ist. Zumindest suggeriert die sonderbare Wolkenbildung am schweren Himmel Bedrohung.
Im hoch wuchernden Gras des Mittelgrunds spielt eine Frau versonnen Flöte, ihre Begegnung mit der Vergänglichkeit beklagend. Die Musizierende, ein Sinnbild zeitlich begrenzter Lebensfreude und Lebensseligkeit, entlehnte Richter einer am 17. November 1972 entstandenen Radierung des exzellenten Zeichners und Graphikers Horst Janssen, und die hinter dem entwurzelten Baum aufragende Ruine bildete er einem Teil des 1945 zerstörten Schlosses von Bad Muskau nach. So deutete Richter in dem komplexen Bild eine zeitliche Dimension und die größer gewordenen Gefährdungen an.“
Das sechstes Blatt der Reihe reflektiert „Gedanken über Lebenswillen und Selbstbehauptung. […] Ganz vorn schieben sich auf der linken Seite Schwertlilien ins Bild. Am weitesten ragt aus der Blumeninsel jene Iris heraus, die Dürer auf einer Aquarellstudie (Kunsthalle Bremen) wiedergegeben hat. Die übrigen Lilien sind Variationen dieses Motivs und stimmen einen Hymnus auf den gestaltungmächtigen Künstler an. Doch das unruhig aufleuchtende Blumenstück wird von einer Reihe übergroß gesehener und mahnmalhaft wirkender Weidenstümpfe nahezu erdrückt.
Die Baumriesen, in denen nur noch hier und da letzte Lebenskraft aufflackert, säumen einen aufgeweichten Feldweg, der hart am Bildrand in die Tiefe führt. Diese Baumruinen lassen an Widerstand und Lebenswillen denken. Die von Menschen beschnittenen und verunstalteten Weiden haben immer wieder Kraft zum Fortbestehen gesucht, doch nun sind sie dem Ende nahe. Teile ihrer Rinde nehmen bereits die Struktur der zerfahrenen Erde an. Zwischen den Stämmen wird eine flache Landschaft sichtbar, die nach hinten durch einen Waldstreifen abgeriegelt ist. Auf einem Weg, der aus der Tiefe zu den Weiden geleitet, geht ein Paar. Die Frau hält beide Hände über ihren gewölbten Leib, während der Mann an ihrer Seite die Rechte zur Bekräftigung seiner Worte hochreißt. Das Paar geht auf die gespenstisch anmutende Baumzeile zu und somit einer merkwürdigen Begegnung entgegen.
Dem Betrachter erscheinen die beiden Bildfiguren sonderbar entrückt, tragen sie doch renaissancegemäße Gewänder. Und in der Tat stammen sie aus ferner Zeit. Richter holte sie aus Dürers Kupferstich Der Bauer und seine Frau [um 1496 / 1497] herüber, dem Kunstinteressierten eine sonderbare Begegnung bereitend. Somit sind in dieser Komposition eigentlich mehrere Begegnungen enthalten, nämlich die von Menschen mit sterbender Natur, die – durch Blumenstück und Baumzeile angedeutet – von aufblühendem Leben und sich näherndem Tod und schließlich die des Betrachters mit Geschichte, Kunstgeschichte und gefährdetem Lebensraum im Bilde.“