Gerenot Richter – Grafiken

Kleine Galerie Waldkater in Bernau

Ausstellung im Januar 1995


Tiefdrucke

Aus der Folge Nach dem Sturm
II-131 Nach dem Sturm I
II-132 Nach dem Sturm II
II-140 Nach dem Sturm III
II-153 Nach dem Sturm VI

Aus der Folge Berliner Ansichten
II-083 Museumsinsel
II-187 Museumsinsel bei Nacht
II-214 Die Uhr im Lesesaal
II-215 Gruß aus Berlin (Schauspielhaus)
II-223 Berliner Mahnmal
II-240 Spreeathen II
II-242 Drei Grazien (Friedrichstadtpalast);
II-244 Artem non odit nisi ignarus (Neues Museum)
II-261 Die neue Friedrichsbrücke (II)

II-199 Stilleben mit Tuch – für K. K.
II-287 Waldsaum
II-297 Verlassenes Gehöft
II-100 Fragmente I
II-100b Fragmente II
(im Werkverzeichnis nicht einzeln ausgewiesen, Zusammendruck mit II-100 Fragmente I
II-005 Rummelplatz
II-037 Stilleben am Grubenrand
II-046 Trauender Eros
II-050 Die Höhle
II-052 Tagebaulandschaft
II-053 Spanien ‘75
II-054 Schwerer Anfang
II-056 Nowgorod [Abbildung zu diesem Beitrag]
II-068 Rügen ’74 (Putbus)

Verkaufsausstellung vom 11. August bis 4. September 1982

Galerie Schmidt-Rottluff Chemnitz


Einführung im Katalog von Inga Kerkin

Gerenot Richter konzentriert sich seit einigen Jahren in seiner künstlerischen Arbeit bewusst auf die Radierung. Im Beherrschen aller Feinheiten dieser Technik erreicht er eine kaum zu übertreffende Intensität. Diese Tatsache lässt ihn zum Außenseiter im Bild Berliner Kunst werden, denn nur vereinzelt streben Berliner Künstler eine ähnliche Präzision an.

Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Radierung von der Kaltnadel, der Strichätzung über die Aquatinta bis hin zu anderen Tiefdrucktechniken wie der Vernis mou (Weichgrundätzung, Anmerkung der Redaktion) und Mezzotinto hat er systematisch erprobt und seinen Intentionen entsprechend verwendet.

Die Verknüpfung von Linearem und Malerischem ist für seine Radierungen typisch geworden. Eine gegenstandsdefinierende Zeichenweise korrespondiert mit feinsinnig differenzierten Tonwerten, wobei die Skala seiner Grautöne sehr umfangreich geworden ist. Selten werden Farbwerte mit einbezogen, mitunter entscheidet er sich für eine Tönung der ganzen Platte.

Konkrete Naturvorbilder der Landschaft sind Ausgangspunkt für Gerenot Richters Radierungen. Er versucht sie in exakter detailreicher Zeichenweise zu erfassen. Die im Detail gefundenen grafischen Lösungen bestimmen oft den Reiz seiner Blätter. Die Realität bleibt bei Gerenot Richter nicht ohne metaphorischen Tiefsinn und veristischen Sachwert. Dabei kommt es zur Verschlüsselung von Bildgleichnissen. In ihnen begegnen sich Natur, Mensch und Künste. Direkte Zitate verknüpfen die Kunstgeschichte mit der Gegenwart. Gerenot Richter sucht immer wieder Traditionslinien für seine Arbeit. Sie führen von der Renaissance über die Romantik bis hin zu zeitgenössischer Kunst. So wurden Albrecht Dürer, Caspar David Friedrich, Otto Runge, Otto Dix und Franz Radziwill von ihm auf einem Blatt, „Das Neugeborene“, zusammengeführt.


Jede Grafik Gerenot Richters hat ihr Geheimnis. Nur dem aufmerksamen Betrachter zeigen sich versteckte Figuren und Gesichter. Zuweilen geht ein Hauch von Wehmut über die Vergänglichkeit von seinen Grafiken aus. Letztendlich ist bei Gerenot Richter auf den ersten Blick sorgsam wiedergegeben erscheinende Naturbeobachtung gleichnishafte, fantastische Poesie.


Abbildung zu diesem Beitrag: Gerenot Richter WV II-105 Das Neugeborene – Hommage zum Jahr des Kindes, 1979 / 1980, Farbradierung auf zwei Platten, Kaltnadel, 36 x 47 cm

Eröffnung der Ausstellung in Anwesenheit des Künstlers


Gerenot Richter zum Gedenken

Ausstellung im Februar 1992

in der Werkstattgalerie b.(tont) und im Café KaD Kadiner Str. 11 und 16


Tiefdrucke

II-245 Manneken Pis (Antwerpen) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

Folge „… und die Erde wird lange feststeh‘n und aufblüh‘n im Lenz.“
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs *
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-291 Villa im Bärenklau *
II-292 Bergstraße *
II-293 Parkwege *
II-294 Parkmauer *
II-295 Tümpel *
II-296 Schloßpark *
II-297 Verlassenes Gehöft *
II-300 Bäume am Feldrand *

II-304 Herbstlicht (für Ingeborg)

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Auszüge aus der Laudatio von Dr. Ljudmila Bruchholz


Seine Radierungen, Aquatinten und Kaltnadel-Arbeiten geben poetisches Zeugnis von der Urgewalt der Natur, der Zeitlichkeit alles Lebendigen, der Endlichkeit menschlichen Tuns. Sie erfordern bei ihrer Betrachtung Muße bzw. haben diese zwangsläufig zur Folge. Du kannst dich der verhaltenen Melancholie der Blätter kaum entziehen, gehst in Dich gekehrt, wacher, sinnlich reicher aus dieser stillen Zwiesprache hervor.


Die (in der Ausstellung) gezeigten Kaltnadel-Arbeiten, Aquatinten und Radierungen sind dem Schaffen eines Mannes geschuldet, der in unvergleichlicher Weise leidenschaftlicher Künstler, verlässlicher Mensch, wacher Zeitgenosse, begnadeter Lehrer war. Mehr als 30 Jahre wirkte er am Institut für Kunstpädagogik der Humboldt-Universität … 1969 saß ich als schüchterne Oberschülerin im Eignungsgespräch der künstlerischen Aufnahmeprüfung zum Studium der Kunsterziehung dem seinerzeit schon bekannten Grafiker, Hochschullehrer gegenüber: Er war mir von Beginn an in seiner leisen, feinsinnigen Art sympathisch. Ohne die sensible Einfühlung, die behutsame Nachfrage durch Gerenot Richter, ohne sein wunderbares Lächeln, das Mut machte, hätte ich wohl kein Wort herausgebracht, geschweige denn meine mitgebrachten künstlerischen Übungsblätter zu kommentieren vermocht … Studium, Forschungsstudium, Assistententätigkeit meinerseits in den folgenden Jahren machten uns zu Kollegen. Respekt, menschliche Wärme, Freundschaft – diese Stichworte vor allem charakterisieren meine Beziehung zu Prof. Gerenot Richter …

Unvergessen wird mir ein Gespräch bleiben, das wir – er, der verehrte Professor und ich, die Studentin – auf einer Bahnfahrt unterwegs nach Rügen ins künstlerische Praktikum hatten. Sommer 1974: mein Vater war gerade ein halbes Jahr vorher gestorben, meine Mutter, damals wenig älter als ich heute, blieb ohne den Lebensgefährten zurück. – Auf meine, ihn sichtlich überraschende Frage nach der Liebe, der großen Liebe des Lebens, erzählte er mir von seiner Frau Ingeborg, ihrer ersten Begegnung und dem Leben mit ihr. Wohlwissend um meinen Schmerz, um den Verlust des Vaters, die Sorge um die Mutter und die leise Angst einer 23-Jährigen, der erfüllten Liebe selbst nicht mehr zu begegnen, sprach er aufrichtig, ein wenig befangen, voll Lauterkeit über seine Gefühle … Wer ihn so erlebt hat, wird verstehen, warum ihn seine Studenten nicht nur verehrten, sondern ihm zugeneigt waren.

1990 schrieb er mir zur Antwort auf meinen Neujahrsgruß, eine Farbfotografie, die meinen 10-jährigen Sohn vor einem 100-jährigen Efeu-Baum an der historischen Stadtmauer Templins zeigt: „Eine gelungene Bildidee: Wie erhaben ist doch die Natur und der Mensch, ihre Krönung, ein Teil von ihr.“ Diese für mich letzten Worte Gerenot Richters kennzeichnen treffend die inhaltliche Gerichtetheit, die Grundstimmung, die vielen seiner künstlerischen Arbeiten innewohnt …

Ausstellung in der Werkstattgalerie b.(tont)
und im Café KaD Kadiner Str. 11 und 16 im Februar 1992


Zum Gedenken an Prof. Dr. Gerenot Richter


Am 5. Januar jährte sich der Sterbetag des Künstlerischen Professors Gerenot Richter. Am ehemaligen Institut für Kunstpädagogik unserer Universität haben viele Studierende sein eigenwilliges Vorbild in Lehre und Praxis erleben können. Lange Jahre war er ihnen ein Cicerone für die wunderbaren und geheimnisvollen Entdeckungsschritte auf das weite Feld der Künstlerischen Druckgrafik.

Wer die grafischen Lehrräume in der Burgstraße 26 betrat, wurde einfühlsam an den Umgang mit Materialien, Werkzeugen und die Bedienung der Handpressen herangeführt. Professor Richters kundige Demonstration der grafischen Arbeitsprozesse hat dazu ermutigt, die Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks in der Radierung und Lithografie zu erproben. Es war ein bezwingendes Erlebnis, wenn man dem tätigen Künstler Gerenot Richter bei seiner eigenen Druckarbeit zuschauen konnte; das Leuchten in den Oberlichtfenstern in der Burgstraße morgens oder spätabends war sichtbares Zeichen.

Angesichts seiner Kraftanstrengungen beim Kurbeln der Steindruckpresse, seiner hörbaren Mühe beim Bewegen des großen Sternrades schien es geboten, das interessante fachliche Gespräch beim Über-die-Schulter-Schauen nicht unmäßig auszudehnen, denn die Aufforderung zu Leistung und selbstgewählter Pflicht übertrug sich schnell.

Berührt von seiner freundlichen Nähe und angeregten Offenheit, konnte man bei der Betrachtung seiner kostbaren grafischen Blätter zugleich eine Ahnung von den ihn quälenden Veranlassungen und beglückenden Inspirationen für sein künstlerisches Wollen bekommen.

Gerenot Richters Lebenserfahrung und seine Betroffenheit um die bedrohte Menschlichkeit und seine Empfindungen von verletzter Natur ließen ihn in demütiger Anschauung und hintersinniger Betrachtung gedruckte Bilder schaffen, in denen erlebte landschaftliche Erscheinungen mit stigmatisierten Naturformen – oft im Zitat – und poetische Deutungen von ihm verehrter Kunstwerke gleichermaßen aufgehoben sind.

Sein Traditionsbewusstsein mit dem Anspruch tugendhaft-naturalistischer Beharrlichkeit verband er mit dem Glauben, als Lehrender ein exemplarisches Vorbild sein zu müssen. Mit Liebe zu gepflegtem Werkzeug führte er detailfreudig – stetig lupenkontrolliert – die spitze Nadel im Widerstand zur polierten Metallplatte und schuf bestechende Druckwerke.

Wenngleich der Studiengang Kunstpädagogik an die Hochschule der Künste überführt wurde, bleibt unserer Universität die Ausstattung einer Grafischen Werkstatt erhalten. Mit diesen Arbeitsmitteln, welche dem neugegründeten Seminar für Künstlerisch-Ästhetische Praxis überantwortet wurden, bleiben die Möglichkeiten der grafischen Arbeit für die Studentenausbildung bewahrt und eine Weiternutzung im Sinne Gerenot Richters garantiert.

Ruth Tesmar in der Zeitung der Humboldt-Universität von 1992 zum 1. Todestag von Gerenot Richter

Gerenot Richter – Gleichnisse (Radierungen und Handzeichnungen)

Ausstellung vom 22. November bis 21. Dezember 1991

Galerie Sophienstraße 8 in Berlin


Tiefdrucke

Aus der Folge Strandläufer
II-061 Strandläufer I *
II-062 Strandläufer II *

II-130 Vaters Uhr - 6 Steine *

Folge Nach dem Sturm *
II-131 Nach dem Sturm I
II-132 Nach dem Sturm II
II-140 Nach dem Sturm III
II-141 Nach dem Sturm IV
II-142 Nach dem Sturm V
II-153 Nach dem Sturm VI

Gleichnisse *
II-188 Gleichnis I
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884),
Radierung und Radierung und Aquatinta
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel)
II-222 Gleichnis II (Die Blinden)
II-263 Gleichnis III (Eustachius)
II-282 Begegnung (Bremer Iris)
II-304 Herbstlicht

Aus der Folge Berliner Stadtansichten | Berlinansichten
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge) *
II-242 Drei Grazien *

II-245 Manneken Pis *

Handzeichnungen

III-035 Muglitz (Rügen)
III-051 Graphische Übung (Finken)
III-052 Plastischer Versuch (in der Ausstellung o. T.)
III-058 Plastische Formen (in der Ausstellung o. T.)
III-069 Straße nach Petersdorf (Nordhausen)
III-073 Baumpyramide (Nordhausen)
III-086 Dachboden, Schloß Burgk
III-090 Wurzel am Hang
III-096 Neptun im Walde (in der Ausstellung unter dem Titel Landschaft mit Neptun)
III-112 Schloß Weißensee
III-113 Weiher bei Milkel
III-132 Parkmauer von Schloß Neschwitz

Flyer zur Ausstellung mit Text von Gisold Lammel

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Prof. Dr. Gerenot Richter – Radierungen

Ausstellung vom 6. bis 28. Februar 1991

Galerie der BASF Schwarzheide GmbH


Radierungen (einzelne Arbeiten)

II-245 Manneken Pis
II-304 Herbstlicht

Ausstellungsplakat der Galerie BASF Schwarzheide, zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen

Die Folgen (Radierungen)

Aus der Folge Lausitzer Landschaften
II-252 Heller Morgen
II-253 Füllhorn und leere Scheuer
II-256 Gemäuer (Abbildung auf dem Plakat zur Ausstellung)

Die Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Die Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs
II-289 Torsi im Stadtpark
II-291 Villa im Bärenklau
II-292 Bergstraße
II-293 Parkwege
II-294 Parkmauer
II-295 Tümpel
II-296 Schlosspark
II-297 Verlassenes Gehöft
II-300 Bäume am Feldrand


Zum Tod des Berliner Grafikers Gerenot Richter

Er war ein nobler Mann. Von einer leisen, taktvollen, feinsinnigen Art. Dem das Grelle ebenso fremd zu sein schien wie Denunziation und Marktgeschrei. Gerenot Richter bot sich nicht an, er war da. Auch für uns. Mehr als zehn Jahre hindurch betreute er, was zum Besten der Jungen Welt zu rechnen ist, die hauseigenen Grafik-Serien, und leicht gemacht wurde es weder ihm, dem Berater und Gutachter, noch den Künstlern und Redakteuren.


Wenn es nur das Geschmäcklerische gewesen wäre, das sich zum Scharfrichter aufschwang über wochenlange Mühen um ein grafisches Blatt, könnte man noch im Nachhinein darüber lächeln, aber es war der jämmerliche Untertanen- und Karrieregeist, der die Urteile diktierte, manches verhinderte oder verbot. Im Namen des Klassenkampfes. Wer wird das später begreifen? Wer wird ermessen können, wie schwer angesichts dessen auch Prof. Gerenot Richters Geduld wog? Bis es nicht mehr ging, weil die Borniertheit in Ekstase geriet. Das war 1985, der Internationalen Grafikserie zu den Weltfestspielen in Moskau folgte die JW-Inquisition, die sich natürlich nicht an ihm austobte, ihn aber betraf.

So verloren wir einen lauteren Menschen, einen verläßlichen Partner und leidenschaftlichen Künstler. Der Schatten jener Schuld trifft uns heute ebenso wie sein früher Tod. Trotz unheilbarer Krankheit arbeitete er bis zuletzt an seinen filigranen Radierungen: Blumen, Büsche, Bäume in verschwenderischer Fülle und Vielfalt, blühend, verletzt, abgestorben. Werden und Vergehen. Nicht wie es dem Kreislauf der Natur entspräche, sondern Willkür und Ignoranz des Menschen entspringt.

Dies ist eine Botschaft für den wachen Betrachter, dem sanften Maler und Mahner gemäß. Verlieren wir sie nicht aus den Augen.

Angelika Griebner in der Zeitung „Junge Welt“ vom 11. Januar 1991

Stille, Wehmut, leise Töne


Matthias Mende 1990 in DÜRERIANA

Ein Mann der Stille, der Wehmut und der leisen Töne. Im hektischen westlichen Kunstbetrieb übersehen – was zählen schon intellektuelle Fähigkeiten und technische Brillanz? Als wir ihn 1980 für unsere Ausstellung „Dürer A – Z“ entdeckten, zählte sein druckgrafisches Werk schon über zweihundert Nummern. Seitdem wuchs es weiter, imponierendes Alterswerk eines Mannes, der weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.


Mit Dürer, überhaupt mit der Kunstgeschichte, erweist sich Gerenot Richter als vertraut. Es gibt wohl gegenwärtig keinen Radierer, der Dürer als Zeitgenossen so selbstverständlich akzeptiert. Richter hat den meisten voraus, dass er den Gesang der Meerjungfrauen hören kann. Er schaut hinter den gekrümmten Horizont, stößt in Bereiche des Vergeistigten vor. Dabei ist er „Realist“ und absolut kein Träumer. Seine kleinteilige Kunst zwingt zum genauen Hinsehen. Nichts für Ungeduldige und Kurzsichtige!


Auf den ersten Blick sieht man nur Strandgut, vom Wasser ausgelaugte, verrottete Pfähle. Bei längerer Betrachtung erwacht das tote Holz zu spukhaftem Leben, man glaubt Gesichter zu sehen, wo eben noch Maserung war. Gedanken an die Vergänglichkeit der Welt stellen sich ein. Verblüfft wird man gewahr: Der Wolkenhimmel ist anaturalistisch, steht Dürer'scher Linienkunst näher als Naturschauspielen, wie man sie von den Küsten kennt. Ins sureale kippt die Szene, identifiziert man die Hauptgruppe aus Dürers „Meerwunder“, die links am äußersten Pfahl erscheint. Der dämonische Greis mit dem fantastischen Gehörn mit der jungen, von ihm geraubten Schönen auf dem Rücken. Gerade weil der Stich inhaltlich so rätselhaft ist, zog er Richter an. Schon in der zum 450. Todestag Dürers 1978 geschaffenen Radierung „Das Meerwunder“ begegnet er uns.

Der Text von Matthias Mende wurde entnommen aus:
DÜRERIANA: Neuerwerbungen der Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung e.V. Nürnberg,
Nürnberg: Verlag Hans Carl, 1990, ISBN 3-418-00349-4, Nr. 114


Gerenot Richter – Radierungen

29. November 1989 bis 4. Januar 1990


Tiefdrucke*

Folge Burgker Miniaturen I – V *
II-147 Burgker Miniaturen I (Saalebrücke)
II-148 Burgker Miniaturen II (Weg zum Schloß)
II-149 Burgker Miniaturen III Schloßbrücke)
II-150 Burgker Miniaturen IV (Wehrgang)
II-151 Burgker Miniaturen V (Zugbrücke)
(Abbildung zu diesem Beitrag)

Gleichnisse *
II-188 Gleichnis I
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884)
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel)
II-222 Gleichnis II (Die Blinden)
II-263 Gleichnis III (Eustachius)
II-282 Begegnung (Bremer Iris)
II-304 Herbstlicht

Aus der Folge Berliner Ansichten
II-194 Spreeathen
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge) *
II-244 Artem non odit nisi ignarus *
II-261 Die neue Friedrichsbrücke II *

II-196 Unter Bäumen I *
II-202 Unter Bäumen II
II-209 Sommer mit M. S. *
II-213 D 1500 Das Meerwunder
II-239 Er - sie - es
II-245 Manneken Pis (Antwerpen) *

Aus der Folge Blüten aus Knollen und Zwiebeln nach Hortus Eystettensis, Basilius Besler, Anno MDCXIII
[als Zusammendruck II, von 12 Platten]
II-227 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Anemone
II-229 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Paeonia
II-230 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Hippeastrum
II-232 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Lilium
II-233 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Gladiolus
II-235 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Titelblatt
II-246 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Dahlia II
II-247 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Tulipa II
II-248 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Iris II
II-249 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Narcissus
II-250 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Hyacinthus
II-251 Blüten aus Knollen und Zwiebeln - Cyclamen

Aus der Folge Lausitzer Landschaften I – IV             
II-252 Heller Morgen *
II-253 Füllhorn und leere Scheuer *
II-256 Gemäuer *

Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs *
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-291 Villa im Bärenklau *
II-292 Bergstraße *
II-293 Parkwege
II-294 Parkmauer *
II-295 Tümpel *
II-296 Schlosspark *
II-297 Verlassenes Gehöft *
II-300 Bäume am Feldrand *

*Diese Exponatliste (59 Arbeiten) entspricht dem aktuellen Stand der Recherche und befindet sich derzeit noch in Bearbeitung.

Die Exponatliste ist mit den Einzelseiten der Werke von Gerenot Richter auf dieser Website verknüpft. Dort finden Sie alle notwendigen Angaben zum jeweiligen Werk sowie künftig viele weitere Informationen.

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Die Folge der „Burgker Miniaturen I – V“ entstand 1981 als Ergebnis eines Studienaufenthalts von Gerenot Richter auf Schloß Burgk. Eingeladen hatte ihn Lothar Lang, der zu dieser Zeit Direktor des Museums Schloss Burg war und als „Papst“ der Kunstkritik in der DDR galt.

Ingeborg Richter, die ihren Mann begleitete, erinnert sich, dass er während der ganzen Zeit des Aufenthalts wie ein Besessener gezeichnet habe, beinahe jede Stunde des Tageslichts nutzend.

Die Burgker Miniaturen stehen zudem in Verbindung mit einer Folge fünf weiterer, erheblich größerer Aquatinta-Radierungen (21 x 29 cm), die ebenfalls Gebäude und Umgebung von Schloss Burgk zeigen.

Burgker Miniaturen

II-147 Burgker Miniaturen I (Saalebrücke)
II-148 Burgker Miniaturen II (Weg zum Schloß)
II-149 Burgker Miniaturen III Schloßbrücke)
II-150 Burgker Miniaturen IV (Wehrgang)
II-151 Burgker Miniaturen V (Zugbrücke)

Die Folge befindet sich ganz oder teilweise in folgenden Sammlungen:

  • Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
  • Kunstsammlung Gera
  • Museum Schloss Burgk

Gerenot Richter – Radierungen

Ausstellung im September 1989 (Eröffnung am 8.9.1989)

Kunstgalerie Budyšin in Bautzen


Tiefdrucke

II 034 Bautzen *
(Abbildung zu diesem Beitrag)

Friedliche Landschaften I - VI *
[als Zusammendruck von 6 Platten]
II-121 Friedliche Landschaft I (Pferde)
II-122 Friedliche Landschaft II (Steg)
II-123 Friedliche Landschaft III (Reiher)
II-124 Friedliche Landschaft IV (Hasen)
II-125 Friedliche Landschaft V (Haus)
II-126 Friedliche Landschaft VI (Hohlweg)

Folge Burgker Miniaturen *
(als Zusammendruck von 5 Platten unter dem Titel „Schloß Burgk“)
II-147 Burgker Miniaturen I (Saalebrücke)
II-148 Burgker Miniaturen II (Weg zum Schloß)
II-149 Burgker Miniaturen III Schloßbrücke)
II-150 Burgker Miniaturen IV (Wehrgang)
II-151 Burgker Miniaturen V (Zugbrücke)

Folge Zwölf Torsi *
II-172 Torso I (Buhnen)
II-173 Torso II (Stubben)
II-174 Torso III (Linde)
II-175 Torso IV (Strandgut)
II-176 Torso V (Buche) 
II-179 Torso VI (Fichte)
II-180 Torso VII (Pappel)
II-181 Torso VIII (Strandgut)
II-182 Torso IX (Weide)
II-183 Torso X (Strandgut)
II-184 Torso XI (Weide)
II-185 Torso XII (Fichte) 

Gleichnisse (5 von 7)
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884) *
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) *
II-222 Gleichnis II (Die Blinden) *
II-263 Gleichnis III (Eustachius) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

II 221 Feldstraße
II 245 Manneken Pis (Antwerpen) *

Folge Lausitzer Landschaften I - IV 
II 252 Heller Morgen *
II 253 Füllhorn und leere Scheuer *
II 256 Gemäuer *
II 262 Sonne im Park (Schloß Milkel) *

Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs *
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-291 Villa im Bärenklau *
II-292 Bergstraße *
II-293 Parkwege
II-294 Parkmauer *
II-295 Tümpel *
II-296 Schlosspark *
II-297 Verlassenes Gehöft *
II-300 Bäume am Feldrand *

48 Blätter

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Gerenot Richter – Radierungen

23. Mai bis 16. Juni 1989

Prenzlau | Kleine Galerie im Armaturenwerk

Tiefdrucke

Aus der Folge Gleichnisse
II-188 Gleichnis I *
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884) *
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) *
II-222 Gleichnis II (Die Blinden) *
II-263 Gleichnis III (Eustachius) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

II-196 Unter Bäumen I *
(Abbildung in diesem Beitrag)
II-202 Unter Bäumen II
II-197 Herbststilleben I (vormals Herbst I)
II-198 Stilleben mit Blüte (vormals Herbst II)
II-207 für M. S. *
II-209 Sommer mit M. S. *
II-213 D 1500 – Das Meerwunder
II-245 Manneken Pis (Antwerpen) *

Aus der Folge Berlinansichten
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge) *
II-240 Spreeathen II 
II-242 Drei Grazien (Friedrichstadtpalast) *
II-244 Artem non odit nisi ignarus *
II-261 Die neue Friedrichsbrücke II *

Folge Lausitzer Landschaften I - IV             
II-252 Heller Morgen *
II-253 Füllhorn und leere Scheuer *
II-256 Gemäuer *
II-262 Sonne im Park (Schloss Milkel) *

Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs *
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-291 Villa im Bärenklau *
II-292 Bergstraße *
II-293 Parkwege
II-294 Parkmauer *
II-295 Tümpel *
II-296 Schlosspark *
II-297 Verlassenes Gehöft *
II-300 Bäume am Feldrand *

Diese Exponatliste (derzeit 46 Arbeiten) entspricht dem aktuellen Stand der Recherche und befindet sich derzeit noch in Bearbeitung.

Die Exponatliste ist bereits mit den Einzelseiten der Werke von Gerenot Richter auf dieser Website verknüpft. Dort finden Sie alle notwendigen Angaben zum jeweiligen Werk sowie künftig viele weitere Informationen.

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Gerenot Richter – Radierungen (Gleichnisse und Berlinansichten)

Ausstellung vom 5. April bis 23. Mai 1989

Predigerkloster in Erfurt


Tiefdrucke

Aus der Folge „Nach dem Sturm“ I - VI                      

Gleichnisse
II-188 Gleichnis I *
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884) *
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) *
II-222 Gleichnis II (Die Blinden) *
II-263 Gleichnis III (Eustachius) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

Berlinansichten
II-187 Museumsinsel bei Nacht
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-216 Das Schauspielhaus 2. Versuch
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge) *
II-240 Spreeathen II *
II-242 Drei Grazien *
II-244 Artem non odit nisi ignarus *
II-261 Die neue Friedrichsbrücke II *

Die Liste der Exponate war in Aufzeichnungen des Künstlers nicht vollständig und wurde für diesen Beitrag aus Zeitungsmeldungen extrahiert: Groß-Aquatinten 6 Gleichnisse + einige frühere Radierungen mit Berlinischen Motiven und Kaltnadelblätter über Naturerlebnisse.
Da bei den Sturmblättern eine von den zwei Platten eine Kaltnadelradierung ist, könnte es sich bei den „Kaltnadelblättern über Naturereignisse“ um die Sturm-Reihe handeln oder um einzelne Blätter daraus.

[Nr. der Exponatliste im Archiv: VL-275]
[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Gerenot Richter – Radierungen

Ausstellung vom 17. bis 30. März 1989 

Zentralinstitut für Genetik in Gatersleben


Tiefdrucke

II-072 Fossile Braunkohle *
II-073 Hochkippe am Tagebausee
II-081 Am Bodden – Gerhard Marcks zum 90. Geburtstag *
II-087 Usadel III *
II-094 Funde am Hohen Ufer *
II-100 Fragmente *
II-105 Das Neugeborene – Hommage zum Jahr des Kindes *
II-114 Am Feldrain *
II-130 Vaters Uhr – 6 Steine *
II-165 Windungen *
II-190 Tödliche Stille
II-196 Unter Bäumen I *
II-207 für M. S. *
II-209 Sommer mit M. S. *
II-213 D 1500 – Das Meerwunder
II-245 Manneken Pis (Antwerpen) *

Aus der Folge Rügen ’74 Hommage C. D. Friedrich
II-041 Rügen ’74 (terra mater) *
II-044 Rügen ’74 (Freetz) *

Aus der Folge Strandläufer
II-061 Strandläufer I *
II-062 Strandläufer II *
II-064 Strandläufer IV *
II-065 Strandläufer V *

Folge Nach dem Sturm I – VI *
II-131 Nach dem Sturm I
II-132 Nach dem Sturm II
II-140 Nach dem Sturm III
II-141 Nach dem Sturm IV
II-142 Nach dem Sturm V
II-153 Nach dem Sturm VI

Aus der Folge Schloß Burgk I - V
II-156 Burgk II (Turnierwiese) *
II-157 Burgk III (Saalebrücke) *
II-166 Burgk IV (Wehrgang) *
II-167 Burgk V (Schlossweg) *

Aus den Gleichnissen
II-188 Gleichnis I *
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884) *
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) *
II-222 Gleichnis II (Die Blinden) *
II-263 Gleichnis III (Eustachius) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

Aus der Folge Berlinansichten
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge)
II-242 Drei Grazien (Friedrichstadtpalast) *
II-244 Artem non odit nisi ignarus *
II-261 Die neue Friedrichsbrücke II *

Aus der Folge Lausitzer Landschaften I - IV 
II-252 Heller Morgen *
II-253 Füllhorn und leere Scheuer *
II-256 Gemäuer *
II-262 Sonne im Park (Schloss Milkel) *

Aus der Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-273 Weidentorsi
II-277 Weiher
II-278 Feldweg

Aus der Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-292 Bergstraße *
II-295 Tümpel *

Zusätzlich wurden 33 Miniaturen aus den Jahren 1982 bis 1987 gezeigt. Genauere Angaben dazu sind bisher nicht zu ermitteln.

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Hochkomplexe und hintergründige Bilder

Für mich gilt es, mit der Tatsache zurecht zu kommen, dass Gerenot Richter, den ich aus langjähriger und benachbarter Zusammenarbeit als einen geradlinigen, unkomplizierten Menschen kenne und schätze, so krumm- und krauslinige, hochkomplexe und hintergründige Bilder macht. Das Problem löst sich, weil man bei genauerem Hinsehen hinter der Komplexität eine gerade Linie im Zugehen Gerenot Richters auf die Welt und in der intensiven Arbeit an seinen künstlerischen Mitteln erkennt – Mitteln, die uns helfen sollen, uns die Welt ästhetisch anzueignen.

In den 1960er Jahren gehörten dazu energische Strichbündel, die den Blick in dynamische Bildräume sogen, durch die ein frischer Wind zu blasen schien. Seit etwa 1974 ruht der Blick des Künstlers genauer auf den Details der sichtbaren Welt und folgt ihm die sorgsam zeichnende Hand mit höchster Präzision. Die Größensprünge in den Bildräumen, wie wir sie auch aus manieristischen Bildern des 16. Jahrhunderts kennen, lassen uns jetzt die Weite als Distanzspannungen erleben. Dazu gesellen sich gegenständliche Spannungen in den Motiven, zum Beispiel der Stranddarstellungen, und durch das Einflechten von Kunstreminiszenzen in scheinbar direkte Naturabbildungen.

Gerenot Richter gehört zu denen, die noch staunen können über die unendliche Vielfalt der Natur und des Menschenwerks, und er hält uns, was sehr heilsam ist, zu gleichem Staunen an. Eine starke Liebe zur Natur und eine starke Liebe zu großer, menschlich bedeutsamer Kunst – wir sollten nicht anstehen, sie eine demütige Liebe zu nennen ­– wachsen zusammen zu einer Liebe zu den Menschen, um deren Lebensraum und Lebenswerte es in dieser Natur symbolisch romantischen Kunst geht.

Verletztes, Zerstörtes, Altes, Abgestorbenes

Mit großer Eindringlichkeit gibt Gerenot Richter häufig Verletztes, Zerstörtes, Altes, Abgestorbenes wieder – aber eigentümlicherweise werden die Präzision, die metallene Schärfe der Linien niemals kalt und selbst die dunkelsten Blätter niemals trostlos. Dafür sorgen die Aufmerksamkeit für organische Regsamkeit und vor allem ein umhüllendes, rationales, reines, ein wirklich erleuchtendes Licht auf den Dingen, das uns nie in einer Verstrickung befangen zurücklässt.

Ich zögere nicht, dies eine daseinsbejahende, eine optimistische Haltung zu nennen. Dabei sieht Gerenot Richter die Wirklichkeit nicht unkritisch, nicht ohne Trauer und nicht unwissend-naiv. Aber nach meiner Auffassung gehört er zu denjenigen Künstlern, die eigentlich nur das gestalten können, was sie lieben. So sind seine Blätter von jener „ansteckenden Zuversicht“ (Hermann Raum), die wir angesichts der heutigen Weltlage so sehr brauchen.

Gerenot Richter schenkt dem, der sich auf das schöne Abenteuer einlässt, mit dem Blick seine Blätter zu durchwandern, eine neue, vertiefte Freude am Sehen wie auch Freude am kunstreich Gemachten. Und das ist eine der großen Aufgaben, die Kunst erfüllen kann und soll.

Inmitten einer Kunstwelt, die voll ist von expressiv Vereinfachtem, Plakativen, skizzenhaft Offenem, technizistisch Seriellem, und die erfüllt ist von der zuckenden Hektik der bewegten Bilder, die täglich auf uns eindringen, breitet Gerenot Richter seine altmeisterlich durchgearbeiteten Blätter und seine entschiedenen ästhetisch-ethischen Wertungen vor uns aus. Wenn mancher dies Konservativen nennen will – konservativ heißt bewahrend, dann sei gesagt, dass wir mit gutem Recht hellsichtiger und nachdenklicher geworden sind gegenüber der Dialektik von revolutionärer Neuerung, die unser Anliegen ist und dem Wiedergewinnen und Bewahren von Werten und Traditionen, die wir gefährdet sehen.

Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
Peter H. Feist: Gerenot Richter / Grafik
Katalog der Galerie a (1989)
Ausstellungen | Auktionen, Seite 33


Gerenot Richter – Grafik

Ausstellung vom 7. Februar bis 10. März 1989

Galerie a in Berlin


Tiefdrucke

Katalog, Edition und Vorzugsgrafik (keine Angaben zu den Werken ermittelbar).

Gleichnisse
II-188 Gleichnis I *
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884) *
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) *
II-222 Gleichnis II (Die Blinden) *
II-263 Gleichnis III (Eustachius) *
II-282 Begegnung (Bremer Iris) *

Folge Berlinansichten
(mindestens diese vier Arbeiten)
II-214 Die Uhr im Lesesaal *
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge) *
II-242 Drei Grazien (Friedrichstadtpalast) *
I-261 Die neue Friedrichsbrücke II *

II-213 D 1500 Das Meerwunder
II-221 Feldstraße

Folge Lausitzer Landschaften I - IV             
II-252 Heller Morgen *
II-253 Füllhorn und leere Scheuer *
II-256 Gemäuer *
II-262 Sonne im Park (Schloss Milkel) *

Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
(vermutlich die gesamte Folge, mindestens aber II-271, II-273, II-277, II-278)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Folge „... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz.“ (Gustav Mahler)
(vermutlich die gesamte Folge, mindestens aber II-288, II-293, II-294, II-296)
II-286 Alter Obstgarten
II-287 Waldsaum
II-288 Üppiger Wuchs *
II-289 Torsi im Stadtpark *
II-291 Villa im Bärenklau
II-292 Bergstraße *
II-293 Parkwege
II-294 Parkmauer *
II-295 Tümpel *
II-296 Schlosspark *
II-297 Verlassenes Gehöft
II-300 Bäume am Feldrand *

Die Exponatliste wurde anhand der Abbildungen im Katalog erstellt. Sie entspricht dem aktuellen Stand der Recherche und befindet sich weiterhin in Bearbeitung.

[* in Exponatliste im NV-Verzeichnis Private Künstlernachlässe Brandenburg aufgenommen]

Gedanken von Peter Betthausen

Gerenot Richters Weg verfolge ich seit langem mit Aufmerksamkeit und Sympathie. Seinen Anfang muss man irgendwo in den frühen 1960er Jahren suchen, als sich hierzulande die bildnerische Fantasie noch vornehmlich an der Erscheinungswelt entzündete. Die zahlreichen Stadtlandschaften, die der Künstler damals zeichnete oder radierte, waren malerisch gesehen: die Welt als ein sich stetig verändernder Sinneseindruck. Blätter solcher, wie ich sie nennen möchte, impressionistischer Machart, kommen in seinem Oeuvre bis heute vor, aber typisch sind sie für ihn nicht mehr.

Um die Mitte der 1970er Jahre vollzog sich in Gerenot Richters Schaffen ein Wandel, der etwas Exemplarisches hat. Nicht nur die Formgesinnung, auch das Gegenständliche änderte sich grundlegend. Das von menschlicher Tätigkeit geprägte Stadtpanorama wich zunehmend der Naturlandschaft, die zwar in einigen Blättern noch weit ausgebreitet, aber nicht mehr summarisch zusammengefasst wurde. Jede Form, ob lebende oder tote Materie, scheint wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet zu sein. Es sind Naturausschnitte, Landschaften im herkömmlichen Sinne kann man sie eigentlich nicht mehr nennen, von denen der Schleier des schönen Scheins gezogen wurde, um das wahre Aussehen der Dinge zu zeigen. An die Stelle des Synthetikers, der sich mit den trügerischen Impressionen, die ihm seine Sinne vermitteln, bescheidet, ist der Analytiker getreten, der Forscher, der in das Innere der geschaffenen Natur, der „natura naturata“, vordringt.

Manche dieser Blätter erinnern an Illustrationen botanischer und geologischer Lehrbücher des 19. Jahrhunderts; es ist die Sache selbst, ihre Wahrheit, um die es geht. Bei genauerer Betrachtung kann einem der Unterschied aber kaum verborgen bleiben. Die Steine, Blätter, Pflanzen, Blumen, Sträucher, Bäume, die dort als Exempel die Gattung demonstrieren, sind hier Individuen, denen die mit unendlicher Geduld und Liebe zur Natur geführte Radiernadel auf geheimnisvolle Weise Leben eingehaucht hat.

Es geschieht immer wieder, dass Künstler, die an einem Wendepunkt ihrer Entwicklung stehen, nach Artverwandtem Umschau halten, das ihre Position klären hilft. Gerenot Richter fand es in der Kunst Albrecht Dürers, der in jener Zeit immer wieder beschworen wurde und zu dessen 450. Todestag im Jahre 1978 eigens eine grafische Folge entstand. Anregungen verdankte er auch der Romantik, namentlich Caspar David Friedrich, der Neuen Sachlichkeit und dem Surrealismus. Nicht zu vergessen Peter Bruegel, der ihn besonders in den 1980er Jahren zu beschäftigen begann. Insgesamt gesehen, kann man von seinen reifen Arbeiten sagen, dass sie von einem stark ausgeprägten kunsthistorischen Bewusstsein zeugen. Er weiß sich offenbar tief im Boden der Kunstgeschichte verwurzelt. Mit dem Jahr 1983, als das große Blatt „Gleichnis“ entstand, begann wohl Gerenot Richters gegenwärtige Schaffensphase. Das Interesse scheint seitdem nicht mehr auf das Einzelne und Besondere fixiert zu sein. Eine neuerliche Neigung zur Überschau, zum großen Ganzen, allerdings jetzt unter anderen Voraussetzungen, ist nicht zu übersehen. Einen gewissen Höhepunkt hatte die Phase der Wahrheitssuche, wie man die späten 1970er Jahre nennen könnte, in den beiden Folgen „Verletzte Bäume“ (1979 / 1980) und „Nach dem Sturm“ (1980 / 1981) erreicht. Diese Blätter variieren ein und denselben Gegenstand nach allen Regeln der Radierkunst. Hier ist der Künstler sezierender Anatom, der einem unsichtbaren Auditorium pathologische Tatbestände vorführt, sich nur zur Sache äußert, gründlich und erschöpfend.

Nach solcher Tätigkeit, so will einem scheinen, musste das Leben in seiner Fülle und Ganzheit wieder zu seinem Recht kommen. Und dies geschah in dem bereits erwähnten Blatt „Gleichnis“. Der gestürzte Baum mutet hier nicht mehr wie ein Demonstrationsobjekt an. Der Betrachter soll ihn als eine in einen größeren Sinnzusammenhang eingebundene Metapher verstehen, die über das Gegenständliche hinausweist, es sozusagen transzendiert. Diese vom Sturm abgeknickte Fichte deutet auf die Natur als „Produktivität“ (Schelling), auf die schaffende Natur, die „natura naturans“, die hervorbringt und zerstört. In dieser Bedeutung kommt der gestürzte Baum auch in anderen Blättern vor, inmitten üppiger Vegetation, in der sich liebende Menschenpaare verborgen sind. So sollen wir den Tod der Bäume auch als Wiedergeburt des Lebens, als ein Durchgangsstadium im ewigen Kreislauf der Natur, verstehen.

Zu den bedeutendsten Arbeiten Gerenot Richters zähle ich neben „Gleichnis“ die beiden Hommagen für Mahler und Bruegel: „Ging heut‘ morgen übers Feld“ (1983 / 1984) und „Der ungetreue Hirt“ (1985), wahrhaft fulminante Blätter, über die es viel zu sagen gäbe. Offensichtlich stehen sie, dafür sprechen schon zeitliche Nähe und gleiche Größe, in einem engen Zusammenhang. Beide sind Huldigungen für einen Komponisten und einen Maler, die zu Gerenot Richters Leben gehören. Der äußere Anlass für das Mahlerblatt war der 100. Geburtstag der „Lieder eines fahrenden Gesellen“ im Jahre 1984. Seine Referenz erweist der Künstler hier aber auch Anton Bruckner, der unter der Orgel der barocken Stiftskirche St. Florian in Linz begraben liegt und drei bildenden Künstlern: Peter Bruegel, Egon Schiele und René Magritte. Zitate aus ihren Werken findet man hier und dort im dichten Geflecht der Vegetation verborgen. Mahlers Grabstein bezeichnet den gedanklichen Mittelpunkt der Komposition, flankiert von einem jener geknickten Bäume und verschwenderisch blühendem Fingerhut, der wie die riesigen Pestwurzblätter und das eng umschlungene Paar das Leben symbolisiert. Die hellste Stelle im Bild ist die schneebedeckte Region der Berge. Man darf sie wohl als eine Metapher für die Ewigkeit und Mahlers Ruhm betrachten.

Die „Hommage á Bruegel“ verstehe ich als eine Meditation über die Vergänglichkeit, auch über die Vergänglichkeit allen Menschenwerkes, das früher oder später dem Verfall anheimfallen muss. Die Einfügung der Bruegelschen Figur, des ungetreuen Hirten, des Mietlings, der, wie es im Johannes-Evangelium heißt, „nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind; (er) sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht“, sie verleiht der Aussage des Blattes noch einen anderen Sinn, der sich auf den einzelnen Menschen und seine Pflichtvergessenheit bezieht. Was er hüten sollte, fällt einem Räuber in die Hände oder verrottet in Wind und Wetter, wie der Wagen, dessen Überbleibsel im hohen Gras liegen. Ein Zeichen der Hoffnung und der Dauer in einer Welt des Egoismus und des Verfalls hat Gerenot Richter mit einer vierhundertjährigen Eiche gesetzt.

Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
Gerenot Richter / Grafik
Katalog der Galerie a (1989)
Ausstellungen | Auktionen, Seite 34


Gerenot Richter – Radierungen

Berlin | Zentralinstitut für Krebsforschung 

Ausstellung vom November 1988 bis Januar 1989


Tiefdrucke

Gleichnisse 
II-188 Gleichnis I
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884)
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel)
II-222 Gleichnis II (Die Blinden)
II-263 Gleichnis III (Eustachius)
II-282 Begegnung (Bremer Iris)

II-196 Unter Bäumen I
II-197 Herbststilleben I (vormals Herbst I)
II-198 Stilleben mit Blüte (vormals Herbst II)
II-202 Unter Bäumen II
II-207 für M. S.
II-213 D 1500 – Das Meerwunder
II-245 Manneken Pis (Antwerpem)

Aus der Folge Berliner Blätter | Berlinansichten
II-214 Die Uhr im Lesesaal
II-223 Berliner Mahnmal (Synagoge)
II-240 Spreeathen II
II-242 Drei Grazien (Friedrichstadtpalast)
II-244 Artem non odit nisi ignarus (Neues Museum)
II-261 Die neue Friedrichsbrücke 

Folge Lausitzer Landschaft I - IV             
II-252 Heller Morgen
II-253 Füllhorn und leere Scheuer
II-256 Gemäuer 
II-262 Sonne im Park (Schloss Milkel) 

Folge „Alles verfault, was ohne Wurzeln ist.“ (Jewgeni Jewtuschenko)
II-270 Lichtung
II-271 Grabmal
II-272 Obelisk
II-273 Weidentorsi
II-274 Pflaumenhain
II-276 Dorf 
II-277 Weiher
II-278 Feldweg
II-279 Straßenbäume
II-280 Viehweide

Nr. der Liste im Archiv: VL 259 | 33 Blätter

Entstanden in den 1980er Jahren

II-188 Gleichnis I
II-192 „Ging heut’ morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884)
II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel)
II-222 Gleichnis II (Die Blinden)
II-263 Gleichnis III (Eustachius)
II-282 Begegnung (Bremer Iris)
II-304 Herbstlicht

Die gesamte Folge oder einzelne Blätter daraus befinden sich in folgenden Sammlungen:

  • Albrecht-Dürer-Haus Stiftung (Nürnberg)
  • Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Archiv)
  • Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst in Cottbus
  • Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst in Frankfurt (Oder)
  • Galerie Albstadt – Städtische Kunstsammlung
  • Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
  • Kulturhistorisches Museum Görlitz – Städtische Kunstsammlung
  • Kulturstiftung Meiningen-Eisenach
  • Kunstsammlung Gera
  • Kunstsammlung Lausitz – Senftenberg
  • Kunstsammlung Kunstverein Templin e.V.
  • Staatliche Museen zu Berlin – Kupferstichkabinett
  • Staatliche Kunstsammlungen Dresden – Kupferstich-Kabinett
  • Staatliches Museum Schwerin – Kupferstichkabinett
  • Stiftung Stadtmuseum Berlin – Graphische Sammlung
WV II-188 Gleichnis I, 1983,
39,5 x 55,5 cm, Radierung und Aquatinta
WV II-192 „Ging heut morgen übers Feld“ (Gustav Mahler 1884), 1984,
Radierung und Aquatinta, 49 x 64,5 cm
WV II-210 Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel), 1985,
Radierung, Aquatinta, Mezzotinto, 50 x 65 cm
WV II-222 Gleichnis II (Die Blinden), 1986,
Radierung und Aquatinta, 50 x 65 cm
WV II-263 Gleichnis III (Eustachius), 1987,
Radierung und Aquatinta, 50 x 65 cm
WV II-282 Begegnung (Bremer Iris), 1988,
Radierung und Aquatinta, 50 x 65 cm

Die sechs gleichnishaften Bilder

Auszüge aus einem Text von Gisold Lammel

Richter befand sich bereits im sechsten Lebensjahrzehnt, als er an jene sechs Darstellungen ging und verfügte „über einen stattlichen Fundus an handwerklich-technischen Erfahrungen im Bereich des Tiefdrucks und über eine reiche Praxis beim Gestalten von Landschaftsbildern. So nimmt es nicht wunder, dass er Lust verspürte, sich weitere, ihn fordernde Aufgaben vorzunehmen, und zwar das große Format und die noch komplexere Sicht auf das Verhältnis von Natur, Kultur und Mensch im Landschaftsbild. Die Sicherheit bei der Nutzung spezifischer Möglichkeiten der Radierkunst und die ihn weitertreibende Bildphantasie bewogen ihn, sozusagen nach den vielen kammermusikalischen Stücken nun einige sinfonische Dichtungen zu schaffen.“

Die großen Gleichnisse enthalten „Bildfiguren sowie Zitate, die eine jahrhundertelange Entwicklung von Kunst und Kultur andeuten. Diese Blätter bilden gewissermaßen die Quersumme von Richters Schaffen und sind mithin für ihn das, was für Dürer die Meisterstiche gewesen sind. Aus ihnen spricht der besorgte Künstler, den eine tiefe Liebe zu Natur, Mensch und Kunst erfüllt hat. Ganz persönliche Erlebnisse in unterschiedlichen Landschaftsräumen sowie in und vor architektonischen Denkmälern und in Museen fügte er zur paysage moralisé. Er hat demzufolge dem Ästhetischen das Ethische hinzugegeben, und immer ist hinter der Bildrealität auch eine gemeinte Wirklichkeit verborgen.

[…]

Richters große gleichnis- und sinnbildhafte Bilder sind in einer Kombination von Ätzradierung und Aquatinta geschaffen worden. Zweifellos war ein sehr hohes Maß an Beharrlichkeit, ja geradezu Besessenheit vonnöten, um bei seiner Gestaltungsweise diese doch beachtlichen Plattengrößen zu bewältigen. Er bezog die Aquatinta ein, um einerseits durch die Zurücknahme von Detailhärten eine stärkere Vereinheitlichung der Teile zu erwirken, andrerseits aber auch, um atmosphärische Wirkungen und Stimmungswerte einzubringen.“

[…]

„Die hier erörterten Gleichnisse und Sinnbilder entstammten Richters Erfahrungsbereich. Aus verschiedenen Sphären entnahm er Anregungen und ließ sie in komplexe Bilder einmünden, die im übrigen auch mit ihren historisierenden Elementen auf den Ton der Zeit gestimmt sind. Besonders wichtig wurden für seine Bildfindungen Erlebnisse in der Natur. Doch die der Realität entnommenen Motive sind von ihm umgeprägt worden, so dass sie sich in die paysage composé fügen, sich den gedanklichen und formalen Strukturen anpassen.

Daneben spielten kunstgeschichtliche Erinnerungen eine große Rolle. Er führte seine Kunstdialoge recht verschiedenartig. Gelegentlich, so bei dem Gleichnis I, ist eine Umformung und Anverwandlung, vagen Erinnerungen folgend, vorgenommen worden. Häufiger jedoch, so bei den übrigen Kompositionen der Reihe, begegnet [uns] das Zitat, das heißt der erkennbar eingefügte Teil aus dem Werk eines anderen.

Das Zitierte erhält somit einen neuen Zusammenhang und erweitert die Aussage. Oft bleibt es auch das Andersartige, so dass eine antithetische Struktur betont wird. Dass Zitiertes und Variiertes aneinandergefügt worden sind wie beim Blumenstück der Begegnung (Bremer Iris), ist hingegen seltener in seiner Kunst zu finden. Nur zwei der sechs Großen Gleichnisse enthalten Bezugnahmen auf Teile mehrerer Vorbilder, damit auch auf Entwicklung weisend. Die besagten Arbeiten weisen eine eigentümliche Kombinatorik auf. Dabei hat Richter auch das scheinbar Disparate zu höherer Bedeutsamkeit und stimmungshaftem Bildganzen gebracht.

Nicht nur mit seinen Kunstrezeptionen und dem damit zumeist verbundenen Sprung durch die Jahrhunderte hat er für Irritationen gesorgt, sondern ebenso durch seinen freien Umgang mit Größenverhältnissen, so im Gleichnis I, in dem sich das Liebespaar im Vergleich zu den Pestwurzblättern winzig ausnimmt, oder im Gleichnis III (Eustachius), in dem die Nischenfigur der Schlossruine genauso überdimensioniert erscheint wie die sich ins Bild schiebenden Pestwurzsprosse. Aber auch die lupennahe Ausformung aller Details im Hintergrund und die künstliche Lichtführung, die das jeweilige Bild gliedert und rhythmisiert sowie Formen klärt und hervorhebt, bewirken gewisse Verunsicherungen.“

Gleichnis I [1983]

Hier spielen „Gedanken über das Geben und Nehmen in der Natur wie über das Leben nach einer Katastrophe eine Rolle. Zu beiden Seiten des Vordergrundes ragen Baumfragmente in den Bildraum: Da krallt sich ein Stumpf mit teilweise unterspülten Wurzeln in den kargen Hang, und da liegt eine abgerissene Krone auf ihrem sperrigen Geäst. Aber die beiden Fichtentorsi gehören nicht zueinander. Die von ihnen getrennten Teile sind dort anzunehmen, wo der Künstler stand und sich nun der Betrachter befindet.

Und wenn sich das Auge an dem Gitterwerk der Sturmopfer vorbei nach hinten drängt, gelangt es zu den Überresten einer den Alterstod gestorbenen Weide. Ein Teil ihres auseinanderklaffenden morschen Stammes hat sich zum Boden geneigt und dabei einen weiten Torbogen gebildet, durch den der Blick zu einer friedlichen Boddenlandschaft geleitet wird, zu einer übers Wasser schauenden Frau am Ufer, zu Möwen und Booten sowie zu einigen von Bäumen umstandenen Häusern. Diese Miniatur, gewissermaßen ein winziges Bild im Bilde, steht im Gegensatz zu der durch den Sturm gezeichneten Landschaft des Vordergrunds. Aber auch hier zeigt sich wiederum ein Kontrast zwischen den zerstörten Bäumen und der sich ungestört am Boden ausbreitenden vielgestaltigen Vegetation, in der ein Liebespaar Schutz gesucht hat. Ein Vogel, hoch oben im toten Geäst sitzend, zwei sich in den unteren Bildecken tummelnde Schmetterlinge sowie die sich auf hügeligem Terrain reckenden Kiefern, die den Sturm überlebt haben, mildern gleichfalls die Klage um das jäh beendete Leben. Das erwähnte kleine Getier, das gar nicht so leicht zu bemerken ist, soll nicht nur einen versöhnlich-heiteren Klang bewirken, sondern auch ganz einfach mit seiner eigenartigen Schönheit die Randzonen des Bildes bereichern und beleben.

Ausgangspunkt für diese Komposition waren Erinnerungen an Aufenthalte auf dem Darß und im Nordhäuser Park von Hohenrode nach der Sturmkatastrophe von 1980. Somit bildet sie eine enge Verbindung zur Folge Nach dem Sturm. Die ganz dem Liebesrausch Ergebenen im Bild erinnern an jene deftig-sinnlichen Paare, die der italienische Bildhauer Giacomo Manzù in den sechziger Jahren geschaffen hat“.

Ging heut’ morgen übers Feld‘ – Gustav Mahler 1884 [1883 / 1984]

Dieses komplexe Bild schließt die Verehrung von Komponisten und Malern sowie die Erinnerung an eine Studienreise nach Österreich und die Meditation über existentielle Fragen ein. Er hat es zu Ehren des genialen österreichischen Komponisten Gustav Mahler geschaffen, der hundert Jahre zuvor das Lied Ging heut’ morgen übers Feld komponierte.

Richter beeindruckte Mahlers Neigung zu Romantisch-Volksliedhaftem, Verinnerlichtem und großartig Panoramischem. Außer dem Titel der Radierung werden zwei deutliche Hinweise auf die Hommage gegeben: Rechts von der sich übers ganze Blatt reckenden Baumruine ist das von Josef Hoffmann entworfene Grabmal Mahlers zu sehen, das Richter auf dem Grinzinger Friedhof besucht hat, und im Hintergrund der linken Bildhälfte ragen hinter Bäumen die Türme des barocken Stifts St. Florian empor, in dem einst einer der Lehrer Mahlers, der Komponist Anton Bruckner, tätig gewesen ist und dort seine Grabstätte gefunden hat.

Neben Musikschaffenden erfahren auch bildende Künstler eine Würdigung, und zwar durch eine Reihe von Zitaten aus Gemälden, die sich in Wiener Museen befinden. Ein Paar, das auf der linken Bildhälfte in die Tiefe schreitet, die daneben hantierende Waffelbäckerin und links dahinter in einer Höhle ihr Mahl Einnehmende entstammen Pieter Bruegels Kampf zwischen Karneval und Fasten und der Bauernhochzeit. Darunter geben einige Pestwurzblätter des Vordergrunds den Blick auf ein sich liebendes Paar frei, das Egon Schiele gemalt hat, und ganz am rechten Bildrand erscheint ein Teil des geheimnisvollen Baumes aus René Magrittes Stimme des Blutes. Mit dieser Auswahl erwies er drei bedeutenden bildenden Künstlern seine Reverenz.

An den Bildschöpfungen dieser Gestaltungsmächtigen haben ihn unterschiedliche Elemente interessiert, so die großartige, gedankenreiche Weltlandschaft des Niederländers Bruegel, der leidenschaftliche ornamental-graphische Stil des Österreichers Schiele und das Surreale sowie der bildhafte Witz in der Kunst des Belgiers Magritte. Künstlerisches Schaffen steht hier für menschliches Schöpfertum schlechthin. Indem verschiedenes Menschenwerk unterschiedlicher Epochen ins Bild genommen worden ist, wird auch die geschichtliche Dimension angedeutet. So erscheinen die Figuren Bruegels im Kostüm der Spätrenaissance, die Klosteranlage aus dem Barock, das Grabdenkmal aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Doch auch Ewigmenschliches klingt an, besonders in dem nackten Liebespaar.

Diese Komposition enthält vielfältige Gegenüberstellungen. Der gestorbene Baum, der da den goldenen Schnitt markiert und mit knorrigen kahlen Ästen gespenstisch über das Bild greift, steht inmitten üppiger Vegetation, Tod und Leben andeutend, wie der Grabstein und das Liebespaar. Doch der etwas wehmütig stimmende tote Baum ist für sich genommen schon Symbol der Vergänglichkeit und Wiedergeburt, der Metamorphose. Einmal verwest, wird er neuer Vegetation dienlich sein. Und vielleicht wird dieser Gedanke durch die Formgebung des toten Holzes aufgenommen, das an einen Kruzifixus erinnert. Suggerieren die Gebirgsmassive im Hintergrund Dauer und Festigkeit, so die am schmalen Himmelsstreifen sich ballenden Wolken Veränderlichkeit, Weichheit und Leichtigkeit. Organisches und Anorganisches in der Natur stehen sich gegenüber und sind wiederum durch gemeinsame Strukturen, umrißverwandte Formen u.a.m. aufs engste miteinander verbunden. Widerspruchsvolle Verhältnisse sind besonders durch den recht freien Umgang mit Größenverhältnissen angedeutet.

Vordergrundstilleben und dahinter liegende Landschaften bilden in der Komposition ein Ganzes. Das magische Licht morgendlicher Sonne, das die Berge streift und den Fingerhut in vorderster Bildschicht aufleuchten läßt, schafft einmal mehr eine Korrespondenz der Raumgründe. In dieser Arbeit begegnet dem Betrachter eine gesteigerte Tastbarkeit der Objekte. Bei aller Liebe für Strukturen und Stofflichkeit ist jedoch Richter nicht im Gestrüpp von Details hängengeblieben, und seine Hingabe an die Natur und seine phantasievolle Kombinatorik haben nie die Grenzen der künstlerischen Gestaltung überschritten. Das Bildgefüge erinnert im übrigen etwas an die labile Tektonik der Symphonien Mahlers, wie ja auch die grotesken Zuckungen und das krause Linienwerk im Schaffen beider zu finden sind.

Es muss Richter ein großes Bedürfnis gewesen sein, diesen Komponisten zu ehren, auch wenn dessen Hauptthema, der Mensch im Alleinsein und Ausgesetztsein, nicht sein ganzes Weltverhältnis ausgemacht hat. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Richter ein knappes Jahrfünft nach dieser Arbeit sich erneut auf ein Werk Gustav Mahlers bezogen hat, als er eine Serie von zwölf kleineren und mit kalter Nadel radierten Landschaften unter dem Titel ... und die Erde wird lange feststeh’n und aufblüh’n im Lenz zusammengefasst hat. Diese Worte sind einem von Hans Bethge aus dem Chinesischen ins Deutsche übertragenen Gedicht entnommen, das Mahler in seiner Symphonie Das Lied von der Erde vertont hat.“

Der ungetreue Hirt (Hommage à Bruegel) [1984 / 1985]

In dieser „großformatigen gleichnishaften Darstellung ehrte Richter einen bildenden Künstler in besonderem Maße.“ Er hat hier „das alte Gleichnis vom guten und vom schlechten Hirten aufgegriffen (Joh. 10, l2), indem er den Mietling zeigt, wie er verantwortungslos dem Wolf das Feld räumt und die ihm anvertrauten Schafe im Stich läßt. Die Szene spielt in einer Landschaft mit niedrigem Horizont, die gleichsam Resonanzfeld und Bedeutungsraum für das dramatische Geschehen bildet. Zerspellte und abgestorbene Bäume deuten ebenso die Katastrophe an wie die Trümmer eines Wagens. Die Welt ist, wie es scheint, hier aus den Fugen. Selbst im Tierreich kommt es zu abnormen Reaktionen: Da schlummert doch links im Vordergrund eine Katze im Grase und kümmert sich nicht um die vor ihrer Nase herumlaufende Maus. Eine merkwürdige Stimmung geht von dem Blatt aus. Im Zentrum ist eine sonderbare, bedrohlich wirkende graue Leere zu sehen, die sich zu einem Feld knisternder Spannung zwischen den Zeichen der Zerstörung und Lebensfähigkeit ausweitet. Eigenartig mutet gleichfalls die schmale Raumbühne an, auf der die jähe Bewegung des in die Tiefe weisenden ruinösen Gefährts sogleich von dem knorrigen Baumriesen aufgenommen und aufwärts geleitet wird, um sich im wundersam verschlungenen Geäst der Krone zu verlieren. Und das rechts der Bildachse befindliche Rad zieht wiederum Bewegungsströme des gebrochenen Baums zusammen und leitet das Auge zum fliehenden Hirten. Die Gräser wirken wie ein Nachhall auf die großen Linien der Komposition und als Ganzes genommen auch als eine Zusammenfassung. Das Blatt ist voller Gegensätze und Korrespondenzen. Der zersplitterte Baum, dessen Faserbündel wie Blitze niederfahren - ein Bild jäher Vernichtung -, steht im Kontrast zu den beiden Baumtorsi wie zu der weit ausladenden Eiche, die das Vergehen und Weiterleben in der Natur anklingen lassen. Hat Richter das zersplitternde Holz schrill und hart ins Bild gebracht, so den mächtigen Baum auf der anderen Seite in gedämpftes Licht gehüllt, aus dem Äste und Zweige vorstoßen und in das sich andere verlieren. Kostbare Strukturen deuten nicht nur Stofflichkeit und Aufbau des Materials an, sondern ebenso Formenverläufe und sie nehmen Bezug auf die Bewegungsströme im Bild.

Inhaltlicher wie formaler Angelpunkt ist der Hirte, der sich hell vom lastenden Grau des Himmels abhebt. Er trägt eine merkwürdige Tracht aus längst vergangener Zeit. Und in der Tat, mit dieser Figur hat es eine besondere Bewandtnis: Sie ist Pieter Bruegels Gemälde „Der ungetreue Hirt“ entlehnt (Philadelphia Museum of Art, Philadelphia, Sammlung John G. Johnson). Auch der Wolf in der Schafsherde am rechten Rand der Radierung erinnert an das Gemälde des niederländischen Malerphilosophen. Und dennoch schuf Richter hier keine historische Landschaft, die sozusagen Landleben des 16. Jahrhunderts vor Augen führt, vielmehr eine „paysage moralisé“, die ein Problem von weitreichender Bedeutung berührt: das verantwortungsvolle Sichstellen jedweder Bedrohung. Fliehen vor Gefahren und Schwierigkeiten oder sich für eine gute Sache einsetzen, das ist hier die Frage, die gleichnishaft und mit Hinweisen auf den genialen Bruegel gestellt worden ist. Vielfältige Bezüge sind möglich: zunächst zur Nachkriegszeit, die - wie Richter bekannt hat - ein klarsichtiges und pflichtbewußtes Engagement zum Wiederaufbau erforderte. Dann ist an die gegenwärtigen Bedrohungen durch Kriege und Gefährdungen der Natur durch leichtfertigen Umgang mit ihr zu denken. Und schließlich erinnert das Zitierte an ein Problem, das in der Menschheitsentwicklung immer Geltung besessen hat“.

Gleichnis II (Die Blinden) [1985 / 1986]

Mit diesem Blatt äußerte Richter „seinen Unmut über die Blindheit von Menschen gegenüber kulturellen Werten. Er hat in dieser Komposition die Vergänglichkeit des Menschenwerks der sich immer wieder erneuernden Natur gegenübergestellt. Der Betrachter steht in einer Ruine und blickt über die verfallene Terrasse und Treppe auf die verwilderte Parklandschaft, in der sich zwei junge Frauen entkleidet haben, um sich zu sonnen. Fragen drängen sich auf: War es blinde Zerstörungswut, die hier das Bauwerk schändete, oder waren es Blindheit und Gleichgültigkeit gegenüber kulturellen Werten, die Villa und Park verkommen ließen? Wer waren die mit Blindheit Geschlagenen? Und deuten die beiden lebensfrohen Akte vielleicht an, dass sich Menschen sehr leicht an den Anblick von Verwahrlostem gewöhnen können?

Die beiden im Grase Lagernden stehen in einem gewissen Gegensatz zu jenen sonderbaren Gestalten in der rechten Hälfte des Mittelgrundes, die nur schwer hinter dem Rhododendronstrauch und den beiden hoch aufragenden Silberdisteln wahrzunehmen sind. Es handelt sich um vier in Gewänder des 16. Jahrhunderts gehüllte Männer, von denen einer, und zwar der Anführer, bereits rücklings am Boden liegt und über den der Nachdrängende gerade strauchelt, während die beiden übrigen unsicheren Schrittes, stolpernd und tastend, dem Fallenden und Gefallenen folgen. Diese merkwürdige Gruppe entstammt dem berühmten Bild Der Sturz der Blinden (1568, Neapel, Galleria Nazionale) von Pieter Bruegel.

Mit ein wenig Ironie ließ Richter die zitierten blinden Männer von den sonnesuchenden Frauen wegstreben und hinschlagen. Hier treffen sich aber auch das Idyllische und das Tragische, klingt mit den zeitlosen Akten und den zeitlich charakterisierten Männern die Langlebigkeit von bestimmten Verhaltensstrukturen an und begegnet eine Konstellation der Figurengruppen, die auch als Nebeneinander-Hinleben deutbar ist. Die Gedankengänge können jedoch noch weitergeführt werden, indem das Zitat zu der verlotterten Villa und dem vernachlässigten Landschaftsgarten in Bezug gesetzt wird. Ist vielleicht, so gesehen, der Zug der Blinden, dieses Beispiel des Irrens wie der Torheit, eine sarkastisch gemeinte Parallelerscheinung zu einer Objektbegehung von Stadtvätern in unseren Tagen? Und kommen wirklich alle mit Blindheit Geschlagenen zu Fall? Im zitierten Blindenzug hat der gerade Fallende sein Gesicht dem Betrachter zugewendet. So schließen sich das Beziehungsgefüge und der Kreis der Fragen.

Hat der Betrachter das Zitat entdeckt, so erhält die fallende Diagonale, die mit den Gestalten beschrieben wird, durch die Architekturteile und Architekturfragmente eine übermächtige Verstärkung. Dann wird die Treppe um so sinnfälliger in ihrer Abwärtsbewegung begriffen.

Die Komposition als Ganzes stiftet Unruhe. Die aggressiven harten und winkligen Formen des ruinösen Bauwerks werden nur geringfügig durch das Blättermeer der Pflanzen und Sträucher gedämmt, obgleich dann einige Stämme der die Lichtung säumenden und den Bildraum abriegelnden Bäume die vertikalen Linien des Vordergrunds aufnehmen und eine gewisse Bildstabilität bewirken. Dennoch setzt sich die Unruhe bis in die vielgestaltigen, zerfaserten Baumkronen fort, die nur wenig vom Himmelsstreifen freigeben. Eine betonte Waagerechte, die festen Halt geben könnte, fehlt. So ist es von der Bildregie her schlüssig, dass einige der Bildfiguren zu Fall kommen; so hat Richter eine sinnlich-gedankliche Einheit herbeigeführt.

Die Bildidee für diese Grafik war Richter beim Anblick des Nordhäuser Parks von Hohenrode gekommen. Einige der dort angefertigten Teilstudien zog er für diese Arbeit heran.“

Gleichnis III (Eustachius) [1987]

Ein Bild über „Nach- und Umdenken angesichts eines überwältigenden Erlebnisses. Für Richter war der Ausgangspunkt für diese Komposition das Gewahrwerden eines entwurzelten Baumes, der völlig gesund und wie von Geisterhand aus dem Erdreich gerissen schien. Diese für ihn unfassbare Situation setzte er in Bezug zu jener Begegnung, die Eustachius, der Heermeister des römischen Kaisers Trajan, einer Legende zufolge auf die Knie zwang.

Die Parallele deutete Richter mit einem Zitat aus dem Kupferstich Der Heilige Eustachius (um 1500 / 1502) von Albrecht Dürer an. Auf dem Blatt des bedeutendsten deutschen Renaissancekünstlers ist dargestellt, wie der auf der Jagd befindliche Eustachius vor einem Hirsch kniet, da er zwischen dessen Geweih ein Kreuz erblickt. Nach der Überlieferung soll der Feldherr auf Grund dieser Erscheinung zum Christentum bekehrt worden sein. Richter hat jedoch diese Szene weggelassen und nur einen Teil der Landschaft in die Komposition eingefügt, und zwar den rechts im Hintergrund aufragenden und von einer Burg bekrönten Berg. Das im wahrsten Sinne des Wortes in den Hintergrund gedrängte Zitat, das eine völlig intakte und harmonisch auf die felsigen Hänge gebaute Architektur wiedergibt, steht im Gegensatz zu der Ruine und dem entwurzelten Baum des Mittelgrunds. So führt das Bild gut erhaltenes und zerstörtes Menschenwerk sowie gedeihende und zugrunde gehende Natur vor Augen. Dabei wird die Frage offengelassen, ob das Vergehen in dieser Bilderwelt von der Zeit oder von einer von Menschen verursachten Katastrophe hervorgerufen ist. Zumindest suggeriert die sonderbare Wolkenbildung am schweren Himmel Bedrohung.

Im hoch wuchernden Gras des Mittelgrunds spielt eine Frau versonnen Flöte, ihre Begegnung mit der Vergänglichkeit beklagend. Die Musizierende, ein Sinnbild zeitlich begrenzter Lebensfreude und Lebensseligkeit, entlehnte Richter einer am 17. November 1972 entstandenen Radierung des exzellenten Zeichners und Graphikers Horst Janssen, und die hinter dem entwurzelten Baum aufragende Ruine bildete er einem Teil des 1945 zerstörten Schlosses von Bad Muskau nach. So deutete Richter in dem komplexen Bild eine zeitliche Dimension und die größer gewordenen Gefährdungen an.“

Begegnung (Bremer Iris) [1988]

Das sechstes Blatt der Reihe reflektiert „Gedanken über Lebenswillen und Selbstbehauptung. […] Ganz vorn schieben sich auf der linken Seite Schwertlilien ins Bild. Am weitesten ragt aus der Blumeninsel jene Iris heraus, die Dürer auf einer Aquarellstudie (Kunsthalle Bremen) wiedergegeben hat. Die übrigen Lilien sind Variationen dieses Motivs und stimmen einen Hymnus auf den gestaltungmächtigen Künstler an. Doch das unruhig aufleuchtende Blumenstück wird von einer Reihe übergroß gesehener und mahnmalhaft wirkender Weidenstümpfe nahezu erdrückt.

Die Baumriesen, in denen nur noch hier und da letzte Lebenskraft aufflackert, säumen einen aufgeweichten Feldweg, der hart am Bildrand in die Tiefe führt. Diese Baumruinen lassen an Widerstand und Lebenswillen denken. Die von Menschen beschnittenen und verunstalteten Weiden haben immer wieder Kraft zum Fortbestehen gesucht, doch nun sind sie dem Ende nahe. Teile ihrer Rinde nehmen bereits die Struktur der zerfahrenen Erde an. Zwischen den Stämmen wird eine flache Landschaft sichtbar, die nach hinten durch einen Waldstreifen abgeriegelt ist. Auf einem Weg, der aus der Tiefe zu den Weiden geleitet, geht ein Paar. Die Frau hält beide Hände über ihren gewölbten Leib, während der Mann an ihrer Seite die Rechte zur Bekräftigung seiner Worte hochreißt. Das Paar geht auf die gespenstisch anmutende Baumzeile zu und somit einer merkwürdigen Begegnung entgegen.

Dem Betrachter erscheinen die beiden Bildfiguren sonderbar entrückt, tragen sie doch renaissancegemäße Gewänder. Und in der Tat stammen sie aus ferner Zeit. Richter holte sie aus Dürers Kupferstich Der Bauer und seine Frau [um 1496 / 1497] herüber, dem Kunstinteressierten eine sonderbare Begegnung bereitend. Somit sind in dieser Komposition eigentlich mehrere Begegnungen enthalten, nämlich die von Menschen mit sterbender Natur, die – durch Blumenstück und Baumzeile angedeutet – von aufblühendem Leben und sich näherndem Tod und schließlich die des Betrachters mit Geschichte, Kunstgeschichte und gefährdetem Lebensraum im Bilde.“