Der Baum ist ein universelles Symbol in vielen Kulturen. Um diese Symbolik zu begreifen, muss man die Bäume sehen und erleben im Wechsel der Tages- und Jahreszeiten.
Gerenot Richter hat das immer wieder bei seinen Aufenthalten in der Natur getan. Still stehen sie, in der Erde verwurzelt, voller Leben, immerfort wachsend, mit allen Elementen in Verbindung stehend, sich mit der Krone gen Himmel reckend, so Erde und Himmel verbindend, Sinnbild für das Leben und für Schutz und Behütetsein. In den Bäumen und dann auch in der reichen Pflanzenwelt sieht Richter, der Naturliebhaber, der nicht religiös gebunden ist, etwas Erhabenes, Ewiges, Verehrungswürdiges.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 1980 fegten orkanartige Stürme über weite Teile Thüringens und den Südharz und auch die am Rande von Nordhausen gelegene Parkanlage Hohenrode. Dieser Park ist die größte historische Parkanlage aus dem 19. Jahrhundert in der Stadt, angelegt von dem Gartenkünstler Heinrich Siesmayer im englischen Landschaftsstil. Hohenrode, das bei den schweren Bombardierungen, die Nordhausen 1945 stark zerstörten, vollständig verschont geblieben war, wurde bei dieser Sturmkatastrophe sehr in Mitleidenschaft gezogen. Große Bäume wurden aus dem Boden gerissen, umgeknickt, seltene Baumsorten und Architekturdenkmale beschädigt. Bis 1981 dauerten die Aufräumarbeiten.
Richter sieht die Zerstörungen unmittelbar nach dieser verhängnisvollen Nacht und sie müssen ihn, den intensiven Naturbeobachter und Naturliebhaber, tief erschüttert haben. Er zeichnete und radierte bis 1982 die sechs großformatigen Blätter „Nach dem Sturm“. In diesen spürt man förmlich den Schmerz über dieses Geschehen, hört das Geräusch des splitternden Holzes, das kreischende Krachen der umstürzenden Bäume, das dumpfe Poltern zusammenstürzender Bauwerke, das Zerschellen herabstürzender Ziegel, den peitschenden Regen und das Tosen des abziehenden bzw. abgezogenen Sturmes, die beängstigende Stille danach. Groß ragt die verwundete Natur in all ihrer endzeitlichen Stimmung voller Dramatik auf vor dem unheilschwangeren gleichmäßig dunkelgrauen Himmel.
Auch wenn in Richters Bildern keine menschlichen Opfer zu sehen sind, lässt diese apokalyptische Stimmung besonders im Blatt I der Folge auch Assoziationen zum Mittelteil von Otto Dix’ Triptychon „Der Krieg“ (1929-1932) zu. Hier steht die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ im Fokus, bei Richter eine Naturkatastrophe, aber auch die Ahnung von weiteren Katastrophen. Manche der zerschmetterten Bäume werden sogar zum Kreuzbaum, Sinnbild für das Leiden, für das kosmische und biblische Mysterium.
Gerenot Richter hat sich auch schon vor dieser Folge mit der Darstellung der Natur, von Flora und Fauna, in ihrer üppigen Vielfalt wie mit ihrem Verfall in der Darstellung von Rudimenten und von verletzten Bäumen beschäftigt. In dieser Folge aber steht ganz im Mittelpunkt das Thema, mit dem sich alle großen Kunstwerke der Welt beschäftigen: der Vergänglichkeit allen Lebens. Sie nimmt damit eine Schlüsselstellung im Werk des Künstlers ein. Von nun an lässt ihn diese Zuspitzung des Themas nicht mehr los, zur naturgegebenen Vergänglichkeit kommt das Vergehen durch andere Ursachen. Es ist auch diese Ahnung des Künstlers, die hier schon bildhaft wird.
Seine Befürchtungen vor einem Atomkrieg mögen hier hineingespielt haben. Ende 1979 fasste die NATO ihren Doppelbeschluss und nach der Entspannung der 1970er Jahre kam es durch den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan zu einer erneuten Verschärfung des Kalten Krieges. Das Baumsterben wurde wenig später zum Thema, wenn auch in den gesellschaftlichen Debatten in der DDR nur sehr eingeschränkt. Aber gerade solch ein intensiver Beobachter wie Gerenot Richter, musste diese Beobachtungen und Veränderungen geradezu seismographisch wahrnehmen.
Die Folge auf einen Blick anschauen:
Der Text wurde entnommen aus:
Hommage an Gerenot Richter – Werkschau in 6 Kapiteln
UM:DRUCK – Zeitschrift für Druckgraphik und visuelle Kultur, Wien 2016