Aus der Laudatio von Helmut Müller zur Ausstellungseröffnung
am 1. Juli 2016 | Domgalerie Fürstenwalde
Gerenot Richter „Ging heut' morgen übers Feld“ – Hommage und Gleichnis Kapitel 2 der 6-teiligen Ausstellungsreihe anlässlich des 90. Geburtstages und 25. Todestages von Gerenot Richter trägt den Titel der ersten ganz großen Gleichnisgrafik von Richter „Ging heut' morgen übers Feld“. Diese, die noch darauf folgenden fünf weiteren großen Gleichnisse und das etwas kleinere „Gleichnis I“ bilden den Kern dieser Ausstellung. Wir haben also alle Meilensteine Richterscher Grafik hier versammelt, umgeben von einer Auswahl weiterer Blätter, auf die der Untertitel „Hommage und Gleichnis“ zutrifft.
Man könnte diese Ausstellung also durchaus als die Hauptschau unter den sechs Ausstellungen betrachten, für die sich auch in dieser Galerie ein wunderbarer Ausstellungsort gefunden hat. *)
„Hommage und Gleichnis“ im Werk Gerenot Richters – ein Thema, das schon in vielen Texten durch Kunsthistoriker untersucht wurde. Besonders die Arbeiten von Gisold Lammel (1942-2001) seien genannt, vor allem sein Text im Greizer Katalog von 1997. Aber auch die Veröffentlichungen von Peter H. Feist (1928-2015) müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden und die hervorragende Besprechung dieser sechsteiligen Werkschau von Volkhard Böhm. Vieles davon ist auch im Internet greifbar, vor allem auf der von Ekkehard Richter installierten Website seines Vaters.
Was habe ich hier da jetzt noch mitzuteilen? Soll ich jetzt Zitat an Zitat reihen um zu einer umfassenden Beschreibung des Themas zu kommen? Das würde eine ziemlich lange Rede werden, die doch nichts neues bringt – also lesen Sie lieber selbst nach. Mein Bezug zu Richters Grafik ist auch kein kunsthistorischer, sondern eher ein praktischer, also will ich auch mal von dieser Seite versuchen heranzugehen, verbunden mit einigen persönlichen Erinnerungen.
Wer die vorige Ausstellung in Dannenwalde gesehen hat, weiß spätestens seitdem, welche große Rolle das Zeichnen vor der Natur als Voraussetzung für Gerenot Richter Grafik spielt. Dort konnte man eine Auswahl von Kaltnadelradierungen aus den späten Grafikkassetten von 1987 und 1988 mit ihren zeichnerischen Vorarbeiten vergleichen – hier haben wir nur einen solchen Vergleich aufgenommen, die „Parkmauer von Schloss Neschwitz“. Vorarbeiten? Sind diese genau beobachteten, intensiven Zeichnungen wirklich nur Vorarbeiten? Auf meine Bemerkung vor seiner Ausstellung 1984 in der Galerie Unter den Linden, dass ich auf die Zeichnungen besonders neugierig bin, hat er sie selbst so bezeichnet: „ganz eng an der Natur und nur Vorarbeiten...“.
Ich finde, dass seine Zeichnungen auch als selbständige und fertige Arbeiten bestehen können, aber Vorarbeiten sind sie insofern, als dass er beim Zeichnen immer schon die Radierung im Sinn hatte. Im Alltag bot sich ihm allerdings wenig Gelegenheit solche aufwendigen Zeichnungen zu machen. Abgesehen von unermüdlichen Kritzeleien während langwieriger Sitzungen und Konferenzen musste das Zeichnen während der jährlich stattfindenden Studentenpraktika erfolgen. Und diese Zeit wurde von ihm maximal genutzt. „Wenn ich nicht weiß, dass ich mindestens sechs Stunden Zeit zum Zeichnen habe, fange ich erst gar nicht an”, hat er mir Mitte der 1980er Jahre mal gesagt. Dass es ihm Ernst mit dieser Aussage war, durfte ich in dieser Zeit oft miterleben. Ein Beispiel dafür: Die Zeichnung für die Grafik „Manneken Pis“ entstand 1986 im Stadtpark von Lohsa in der Lausitz in zweieinhalb Tagen. Leider können wir sie hier nicht zeigen, weil sie sich im Otto Dix Haus in Gera befindet – aber im Katalog ist sie abgebildet und sie unterscheidet sich von der Grafik nur dadurch, dass sie spiegelverkehrt ist und das Brueghel-Zitat noch fehlt. Mit dem Zeichnen der riesigen Wurzel im Vordergrund hat er begonnen – ganz konzentriert auf das Erfassen der komplizierten Form; Naturstudium im besten Sinne.
„Dann wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.“
Albrecht Dürer
Herausreißen meint in diesem Zusammenhang ZEICHNEN. Und Richter hatte die Kunst! So ist dann nach längerem intensiven Arbeiten (drei, vier, fünf Stunden – ich weiß es nicht mehr so genau ) eine hervorragend durchgearbeitete Studie dieser Wurzel entstanden. Für jeden anderen wäre das ein fertiges gültiges Blatt und als Tagesergebnis genug gewesen. Nicht so für Richter! Mit dem zu zwei Ditteln noch leeren Blatt setzte er seinen Parkspaziergang fort, um sich ca. 100 Meter weiter, mitten im fast mannshohen Brennesselgestrüpp vor zwei mächtigen Eichen erneut zum Zeichnen niederzulassen. Da die Zeit an diesem Tag natürlich nicht mehr zum Fertigstellen der Zeichnung reichte, wurde die Arbeit am nächsten und übernächsten Tag fortgesetzt. Durchaus denkbar, dass ein in dieser Zeit durch den Park flanierender Spaziergänger seine Notdurft im Gestrüpp verrichtet hat, ohne den in den Brennesseln verborgenen Zeichner zu bemerken und so die Idee für die titelgebende Figur auf der Grafik geliefert hat.
Für diese Art konzentrierten Zeichnens hat der von Richter geschätzte westdeutsche Künstler Horst Janssen, der „Millionenstrichler“, eine treffende Benennung gefunden: „Ich bin nur ganz Auge!“ Das ist bei Richter nur bedingt richtig, hat er mir doch z. B. mal gesagt, dass das, was ihm beim Zeichnen so alles durch den Kopf geht und unbewusst in die Grafik einfließt, nur zum geringsten Teil vom Betrachter entschlüsselt werden kann. Gisold Lammel hat Richter in einem seiner Texte ein „ausgeprägtes kunsthistorisches Bewusstsein“ bescheinigt, dadurch ist dann vielleicht aus dem in die Brennesseln pieselnden Zeitgenossen Brueghels „Manneken Pis“ geworden. Aber das ist jetzt natürlich reine Spekulation.
Unbestreitbar ist jedoch, dass wir es nicht seltsam finden, dass Figuren aus Bildern von Dürer, Brueghel, Lorrain und anderen Richters Landschaften bevölkern, oder gar ein Bruchstück eines antiken Säulenkapitells Teil der Ruinen eines im Lausitzer Braunkohlerevier weggebaggerten Dorfes wird („Fragmente“). Natur und Kunstwelt verschmelzen, Raum und Zeit werden in Richters Bildwelt mühelos überbrückt.
Die von mir geschilderte Arbeitsweise, vom strengen Naturstudium zur fertigen Grafik zu gelangen, scheint keinen Raum für Spontaneität und zufällige Entdeckungen zu lassen, aber dafür ermöglichte sie es Richter, bei der sehr geringen für die eigene künstlerische Arbeit zur Verfügung stehenden Zeit, überhaupt so viel Eigenes zu schaffen. Jede Arbeit konnte jederzeit für kürzere oder längere Zeit unterbrochen und zu jedem beliebigen Zeitpunkt fortgesetzt werden, ohne dass irgendwelche Brüche erkennbar sind.
Parallel dazu gab es besonders um 1980 herum noch anders entwickelte Grafiken, Richter hat hier vom „gesteuerten Zufall“ gesprochen. Hier wird die Grafik nicht durch präzise zeichnerische Vorarbeiten entwickelt, wie z.B. bei „Wegzeichen“ und „Unter Bäumen III“, sondern man beginnt zuerst mit der Bearbeitung der Druckplatte, z.B. durch Abklatschen des noch feuchten Abdecklacks, wodurch ein teilweises unkontrolliertes Entfernen des Lackes passiert. Nach dem Ätzen sind druckbare Zufallsspuren auf der Platte, die dann zeichnerisch interpretiert werden können. Auch von den Studenten wurde diese Methode der Bildfindung gern genutzt, meist blieb jedoch sichtbar, was durch Zufall entstanden war und was gezeichnet. Nicht so bei Richter, hier verschmelzen Zufallsstrukturen und bewusst Gezeichnetes zu einer Einheit – alle Arbeiten mit der Technikbezeichnung „Flächen- und Strichätzung“ sind so entstanden. Eine andere Form des „gesteuerten Zufalls“ gibt es in der Technik der Kaltnadelradierung. Zunächst werden Zufallsspuren mit verschiedensten Werkzeugen erzeugt (Zahnarztbohrer, Drahtbürste, Feile...) und diese sind dann Anregung für diszipliniertes Weiterarbeiten. „Acis und Galatea“ im oberen Raum ist ein Beispiel dafür. Oft gibt es bei Richter auf verschiedenen Grafiken wiederkehrende Motive:
Bäume, die manchmal gar keine sind, sondern nur kleine Ästchen: „Strandläufer IV u. VI“, oder Schwemmhölzer: „Pablo im Darß“. Verschobene Größenverhältnisse führen zu surrealen Verfremdungen: „Schloßgarten“ und „Wegzeichen“. Es gibt Landschaftsfiguren: „terra mater“ und andere surreale Kombinationen: „Vita I – IV“ und „Hommage à Michelangelo“. Im oberen Raum erwartet Sie auch noch einiges mehr, unmöglich, das hier alles nur aufzuzählen. Wo er nicht überall noch etwas versteckt, dass sich auf der ohnehin schon winzigen Grafik „Zerstörte Dächer“ noch auf einem der Dachböden Dürersche Hunde balgen, ist kaum noch wahrnehmbar.
Angesichts dieser Vielfalt, Disziplin und Strenge im eigenen künstlerischen Arbeiten muss er manchmal durch die studentische Laxheit und Oberflächlichkeit ganz schön gequält worden sein – hat sich das jedoch nie anmerken lassen, blieb immer freundlich und suchte in jeder Studentenarbeit, auch der misslungensten, zunächst etwas Positives. Ich hätte mir manchmal gewünscht, mehr Kritisches von ihm zu hören. Aber Kritik war selten und kam manchmal sogar noch in gestalteter Form daher: z. B. habe ich von ihm im Studentenpraktikum, sicher in der Absicht mir auszutreiben, immer mitten im Motiv zu hocken, ein Leonardo-Zitat, sorgfältig in seiner kunstvollen Handschrift geschrieben und in der Mitte gefaltet, dezent zugesteckt bekommen.
Aber nun genug aus der Werkstatt geplaudert, kommen wir noch einmal auf das dieser Ausstellung den Titel gebende Blatt zurück. Gustav Mahlers Musik liebte Richter besonders, er hatte 1983 sogar die Gelegenheit auf einer Reise nach Wien Originalschauplätze von Mahlers Leben und Wirken zu sehen und zu zeichnen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass er ihm die erste seiner ganz großen Kompositionen widmete – auch bei Mahler sind es ja vor allem die großen Kompositionen, seine Sinfonien, die er schätzte.
Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, zu untersuchen, ob es nicht auch Gemeinsamkeiten in der Arbeitsweise von Mahler und Richter gibt?
Fallen da nicht sofort welche auf?
Die erste große Komposition hat Gerenot Richter Gustav Mahler gewidmet, die letzte, schon unter unsäglichen Mühen und Schmerzen entstandene, seiner Frau Ingeborg. Wie anders ist doch dieses Blatt im Vergleich mit den anderen, die hektische Überfülle ist ausgewogener Ruhe gewichen und es ist sicher kein Zufall, dass er hier eine Plastik des großen Menschenbildners Ernst Barlach zitiert. Ein letzter Dank an seine Lebensgefährtin!
Auch ich möchte Ingeborg Richter Dank sagen, manche Leihgaben werden hier erstmalig gezeigt, andere in neue Zusammenhänge gebracht. Mit dem Entschlüsseln der vielen anderen kunsthistorischen Zitate möchte ich Sie jetzt einfach allein lassen. Richters Bilder brauchen auch nicht unbedingt einen Erklärer, selbst wenn man keins der zitierten Bilder kennt und einem die titelgebenden Gleichnisse unbekannt sind, ist es gute Grafik, die Fachleute und Laien gleichermaßen überzeugt. Wer jedoch neugierig geworden ist, dem empfehle ich einen Besuch auf der Website oder/und den Erwerb des opulenten Kataloges zu dieser Ausstellungsreihe. Sammler bekommen auch diesmal wieder die Chance vier verschiedene Kleingrafiken für kleines Geld käuflich zu erwerben.
Vielen Dank für Ihr aufmerksames Zuhören und viel Vergnügen beim Betrachten der Ausstellung.
Anmerkung:
*) Leider mit einem bedauerlichen Nachteil gegenüber allen anderen Ausstellungsorten: Die Öffnungszeiten! Trotz der langen Ausstellungszeit werden die Arbeiten nur insgesamt 36 Stunden für Besucher zugänglich sein. Gut, dass Sie die Gelegenheit gleich bei der Ausstellungseröffnung nutzen!
„Ging heut' morgen übers Feld“ – Hommage und Gleichnis
Ausstellung vom 1. Juli bis bis 28. August 2016
Domgalerie | Domplatz 3 | 15517 Fürstenwalde
Laudatio: Helmut Müller
Musik: Barbara Ehwald (Sopran), Giedre Lutz (Klavier)