Er war ein Vollblutgrafiker, ein Radierer par excellence. Gerenot Richters Radierungen und Aquatinten sieht man die Freude und Hingerissenheit ihres Schöpfers an den detaillierten Schönheiten der geschauten und bewunderten Natur und den Formfindungen großer Kollegen der Vergangenheit an. In vielen seiner Bilder verschmolz er beides zu einer genialischen Einheit. Die Wunder der Natur und das Wunder menschlicher Kreativität im überzeugenden Künstlertum offenbaren in seinen Bildern eine Zusammengehörigkeit, die so überraschend wie logisch ist.
In den besten dieser Bilder kann der geduldige, forschende, aber auch genießende Betrachter ganz neue Einsichten in die Einbindung des Menschen, der menschlichen Leistung in die Großartigkeit von Flora und Fauna finden. Im Nachspüren bis ins kleinste Detail und im Aufzählen ihrer Vielfältigkeit liegt die Faszination seiner graphischen Blätter, liegen aber auch ihre Grenzen.
Gerenot Richter hat lange um die Anerkennung seines künstlerischen Schaffens ringen müssen. Er gehört zu den Künstlern, deren Werke zwar früh von kenntnisreichen Sammlern gewürdigt wurden, aber erst spät erkennt die Kunstkritik ihren Wert. In der Mitte der 1980er Jahre gelang ihm dieser Durchbruch. In dieser kurzen Zeit, bis zu seinem frühen Tod 1991, häuften sich dann die Ausstellungen.
Mitte der 1970er Jahre hat Richter sein Thema und sein künstlerisches Ausdrucksmittel gefunden. Seine Technik wird der Tiefdruck mit all seinen Möglichkeiten. Als Künstler und als Drucker – er druckt fast alle seine Blätter selbst – bringt er es zu überzeugender Meisterschaft. Sein Thema wird das Gleichnis. Zwar nennt er „nur“ eine Folge von zwischen 1983 und 1988 entstandenen Grafiken „Gleichnisse“; dessen ungeachtet, haben fast alle seine in der reifen Phase entstandenen Grafiken Gleichnis-Charakter – ausgenommen wenige reine Landschaftsradierungen.
Dabei vereinen Richters Gleichnisse sowohl das Wesen der Parabel als auch der Allegorie. Er erzählt Geschichten, um zu einer konkreten Aussage zu kommen, er verklausuliert Bildelemente, denen reale Landschaften, reale Personen oder reale Kunstwerke zugrunde liegen, deren umfassende Aussage erst in der Entschlüsselung liegt. Es geht ihm um die Schönheit und Gefährdung von Natur und Mensch, um Vergänglichkeit und den Sinn allen Lebens. Das sind Fragen, die er immer wieder aufgreift. Anleihen und Bestätigung holt er sich in der älteren Kunst, bei Schongauer etwa, oder bei Dürer, Bruegel, Friedrich.
Diese Zitate werden deutlich benannt (mitunter auch im Titel), fügen sich harmonisch ins Bildganze ein, verschmelzen zu einem einheitlichen Bild. Einige werden nur für den wirklichen Kunstkenner sichtbar, weil sie so selbstverständliches Kompositions- und Gestaltungselement werden, das ihr eigentliches Zuhause eben gerade dieses Bild zu sein scheint. Warum sollte der Grabstein in dem Blatt „Ging heut morgen übers Feld“ nicht gerade in diesem wuchernden Park stehen? Man spaziert durch die reichhaltige Pracht, zieht einige Zweige und Blüten auseinander und steht davor. Oder der strullernde Mann im Blatt „Manneken Pis“ – ein Bildzitat von P. Bruegel d. Ä. – könnte hier genauso selbst geschaute Realität sein.
Damit macht uns Richter aber auch auf etwas anderes aufmerksam – die Zeitlosigkeit großer Kunst, ihre immerwährende Wahrheit. Dürer, Bruegel, Marcks sagen uns nach wie vor womöglich mehr über uns und unsere Welt als manch zeitgenössische Spitzfindigkeit.
So etwa in dem 1982 entstandenen Blatt „Frühling mit A.D.“, ein Fensterbild als Sinnbild für Hoffnung und Sehnsucht. Draußen vor dem Fenster steht der Dudelsackpfeifer aus einem Kupferstich Dürers von 1514 inmitten einer winterlichen Landschaft, drinnen auf dem Fensterbrett ein welkes Blatt, blühender Ritterstern, treibender Rhabarber und ein Schneckenhaus, alles Sinnbilder in einem großen Gleichnis: Werden und Vergehen, Ausgesetztsein und Geborgenheit und der schöpferische Mensch eingebettet in den Lauf der Geschichte.
Und Richter beherzigt eine andere Erkenntnis seiner Vorgänger. Wichtig ist nicht das technische Raffinement pur. Er bleibt bei der klaren soliden Handhabung der Mittel und der graphischen Technik. Spontanität und technisches Experiment finden keinen Eingang, darin ist seine Kunst klassisch geprägt. Sie setzt eins voraus – die Zeichnung. Richter ist ein akribischer Zeichner. Er zeichnet auf seinen Reisen, Landschaftseindrücke, Architekturen, er zeichnet in Museen, und er zeichnet in den Studentenpraktika an der Ostsee und in der Lausitz, im Braunkohlentagebau bei Hoyerswerda oder im Harz bei Nordhausen.
1976 und 1977 entsteht die Folge „Strandläufer“. In ihr verarbeitet er Erlebnisse seiner Sommeraufenthalte an der Ostseeküste. Neben der Großartigkeit der Natur mit ihren phantastischen Stränden, verschlungenen Wurzeln, abgeschliffenen Buhnen, dem flachen Horizont und der weiten Himmelsfläche steht winzig klein der Mensch. Dazu kommen Stillleben mit Gegenständen der Zivilisation.
Es ist die Sehnsucht nach Weite und Unabhängigkeit. Im fünften Blatt der Folge sehen wir den Künstler selbst, wie er mit dem Skizzenblock hineinschreitet in die scheinbare Unendlichkeit, sein Motiv suchend. Vorne, groß, das Stillleben mit den Utensilien des wandernden Künstlers und über ihm vor dem dunklen Himmel der riesige Wolkenberg einer Cumulus-Wolke – dieser Schönwetterwolke, die sich, wenn sie am frühen Morgen erscheint, im Laufe des Tages zur mächtigen Schauerwolke entwickeln kann – Sinnbild alles für die Schön- und Erhabenheit aber auch Unberechenbarkeit der Natur. Wolken, also die Gestaltung der Himmelsflächen, werden bzw. wird zunehmend seltener in Richters Werk. In den dann meist grauflächigen, monochromen Himmelszonen weicht die Dramatik einer eher melancholischen Stimmung.
Diese Metapher von Natur – Großartigkeit und Unberechenbarkeit – führt Richter in seiner Folge von sechs Blättern „Nach dem Sturm“ (1980-82) zu einem überzeugenden Höhepunkt. Entwurzelte und splitternd abgeknickte Bäume werden Sinnbilder für die Vergänglichkeit allen Lebens. Hintergrund ist die Sturmkatastrophe von 1980, deren Folgen Richter in und um die Harzstadt Nordhausen erlebt hat. In diesen Sturmblättern bezähmt er seine Freude am Detail, kein Bildzitat führt auf andere Wege, keine Geschichten werden erzählt, ja eigentlich verleugnet hier Richter sein künstlerisches Naturell – Graphiken von bestechender Eindringlichkeit entstehen, erschütternd mit ihrer Wahrheit und in ihrer Wahrhaftigkeit.
Die Farbgraphiken dieser Folge und seine anderen Farb-Aquatinten bleiben in ihrer Beschränkung auf wenige diffizil aufeinander abgestimmte Farben Graphik durch die Beschränkung der Mittel, Graphik in bester Tradition. Bäume sind das wohl wichtigste, immer wiederkehrende Motiv des Künstlers, Bäume geschunden als Baum-Ruine und Baum-Torsi als Sinnbild von Tod und ewiger Metamorphose, Bäume, kraftstrotzend im unverwüstlichen Wuchs, Sinnbild des Lebens, der Beständigkeit. Bäume sind bei Richter Geschöpfe mit Physiognomien und Gestik.
Neben der Sturm-Folge schuf Richter zwischen 1983 und 1989 eine zweite großformatige Folge von sieben Graphiken mit gleichnishaftem Charakter, auch wenn er nur drei davon direkt als „Gleichnis (I-III)“ bezeichnet. In ihnen entwickelt er ein Gegen- und Miteinander verschiedener Sinnbilder als Metapher für Tod und Leben, Ewigkeit und Vergehen, Kreativität und Destruktion, kommt so zu Weltpanoramen aus einer zutiefst humanistischen Lebensphilosophie. Die Bilder werden zu Meditationen über Fragen der menschlichen Existenz. In diesen Blättern vereinigt er seine Ausdrucksmittel zu seinem künstlerischen Credo, zum Zusammenklang, ähnlich einer großen Symphonie.
Eines dieser Blätter ist dem verehrten Komponisten Gustav Mahler gewidmet: „Ging heut’ morgen übers Feld“. Auch in diese großartige Komposition webt er Bildzitate ein: das Paar und die Waffelbäckerin sind von Bruegel, ein Paar von Schiele, ein Baum von Magritte – alles von Bildern aus Wiener Museen. Eine entsprechende Reise ging voraus. Dazu kommt Mahlers Grabmal und das Stift St. Florian, in dem der Lehrer Mahlers, der Komponist Anton Bruckner, wirkte und begraben liegt. All das ist eingebunden in eine üppig wuchernde Fauna, unterbrochen nur durch die bizarre Gestik eines toten Baumes, darüber schroffe, schneebedeckte Felsen der Alpen, der Erhabenheit des antiken Olymps gleich – Tod und Leben als zusammengehörende Antipoden in den Metaphern toter Baum und üppige Vegetation, Liebespaar und Grabstein. Der Hymnus an die verehrten Vorgänger verbindet sich mit dem Glauben an die Ewigkeit menschlichen humanistischen Schöpfertums durch die Jahrhunderte und dessen Erhabenheit in seiner höchsten Vollendung.
Gleiches findet man in Richters letztem Blatt „Herbstlicht“, das er seiner Frau widmet. In Impressionen aus dem Schlossgarten von Neschwitz ruhen Barlachs „Schlafende Vagabunden“ unter alten halb abgestorbenen Eichen. Auch dieses Bild ist voller Metapher von der Überwindung von Tod und Vergänglichkeit durch menschliches Schöpfertum und menschliche Zuneigung.
Neben diesen großen Gleichnis-Landschaften knüpft Richter gelegentlich an seine früheren Stadtbilder an. Die Stadtbilder der 1980er Jahre haben als Motiv häufig das Gebiet um die Berliner Museumsinsel. In unmittelbarer Nähe befand sich seine Wirkungsstätte als Dozent im künstlerischen Lehrbereich. Diese Bilder sind nicht nur weitgehend topographische Bestandsaufnahmen, Richter sinniert in ihnen über das Wechselspiel von Alt und Neu, von Beständigkeit und Zerstörung.
Zwischen den aufwendigen, oft großformatigen Aquatinta-Radierungen entstehen Grafiken in der Kaltnadeltechnik, spontaner, emotionaler und großzügiger – impressionistisch. Richters Grafiken, die großformatigen Blätter und die vielen Miniaturen, sind geprägt von dieser eigenartigen Mischung aus Emotionalität, die sich in der Freude am Detail, an der einzelnen Form berauschen kann und in der Solidität und Rationalität der technischen Mittel, in der präzisen Zeichnung und der nachvollziehbaren Abfolge der Aquatinta-Töne.
Richter war mit seiner Kunstauffassung ein Einzelgänger in der Berliner Kunst oder er hat, wie Heinrich Burghardt sein Lehrer an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Ende 1994 schreibt, mit seiner Kunst „in Berlin eine gänzlich neue Seite aufgeschlagen“, die allerdings keine direkten Nachfolger gefunden hat.
Dieser Text von Volkhard Böhm wurde entnommen aus:
Graphische Kunst, Heft 52, Edition Curt Visel, Memmingen 1999
Aus Gründen der Lesbarkeit im Netz wurde der Text leicht redigiert.
Abbildung: Gerenot Richter: WV II-158 Frühling mit A. D., 1982