Auszug aus einem Brief an die Tochter
Bei meinen Arbeiten an zwei kleinen Ätzungen habe ich mich etwas intensiver … mit Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ beschäftigt. … Ich hatte Vivaldi nur so gehört, mehrere Male, ohne Texteinführung. Die musikalischen Gedanken, Wendungen, Verwandlungen etc. haben vielerlei Gefühle und Erinnerungen an andere Werke anderer Musiker (z.B. auch Beethoven, Britten) erzeugt. Allmählich bauten sich eigene Bezugsfelder auf. Dann las ich im Konzertführer eine ausführliche Analyse und plötzlich, beim neuen Hören, war alles ganz anders, frappierend, aber nicht unbedingt eindrucksvoller. Mir war nicht bekannt, dass fast jede musikalische Geste eine Bild- bzw. Gefühlsvorstellung auslösen soll (z.B. Zähneklappern, Füßestampfen etc.) Ich versuchte, das weitere Hören dem ersten anzugleichen, die Bilder abzustreifen, den reinen musikalischen Klang wiederzufinden. Es gelang mir nicht.
Eigentlich bedaure ich, den Text gelesen zu haben, denn die erste Wirkung, die eigene individuelle Aufschlüsselung der Musik ist nicht wiederzugewinnen. Natürlich ist die Musik nachwievor beeindruckend, aber das Hörerlebnis ist von ganz anderer Art, wenn man weiß, dass alles in irgendeiner Weise programmatische Schilderung sein soll. Mir ist der Gegensatz von eigener, unbeeinflusster Aufnahme und Nachvollzug musiktheoretischer … Erläuterungen noch nie so stark zu Bewusstsein gekommen wie in diesem Fall … ich werde mal sehen, ob ich bei Carl Dahlhaus etwas über mein Problem finde, denn mir scheint, hier ist mir etwas passiert, was mit dem Verhältnis von absoluter Musik und Programm zusammenhängt. Übrigens finde ich bei Vivaldi den Winter „umwerfend“. Schon wie er beginnt. Und wie „schräg“ im Klang. Irre!