Gedanken von Roland R. Berger im Katalog der Ausstellung Gerenot Richters „Gleichnisse“ vom 02.09. bis 9.11.2006 in Joachimsthal
Gleichnisse begleiten die Zivilisationsgeschichte der Menschheit; sie sind von uralten Erfahrungen in Sachen Vernunft, Moral, Religion und Welterklärung geprägt. Manche Gleichnisse erinnern an Sprichwörter und geläufige Redensarten, haben ihren sozial-historischen Ursprung; sie erleben Zeiten der Allgegenwärtigkeit und des Vergessens. Aus der Bibel sind die Gleichnisse Jesu bekannt, parabelhafte Erzählungen, zumeist aus zwei Teilen bestehend. Die erste Aussage, dem täglichen Leben und der Anschauung entnommen, verbindet sich mit der zweiten, die gewissermaßen die Moral der Geschichte verdeutlicht. Diese muss nicht mit einer plumpen Lehre, mit erhobenem Zeigefinger ausgesprochen werden. Die Sprache vermag zwar mittels der Worte unsere Phantasie anzuregen, eventuell auch Bilder vor dem geistigen Auge wachzurufen, aber Worte sind Begriffe und verleiten zum abstrakten Denken, dem die sinnliche Entsprechung fehlt.
Die Werke der bildenden Kunst erzählen mit anders gearteter Anschaulichkeit und folglich müssen bildhafte Darstellungen von Gleichnissen eine poetische Kraft entwickeln, in der Schilderung eines Sachverhaltes so viel Brisanz innewohnt, dass der Betrachter die belehrende Verallgemeinerung aus der Anschauung erahnen und erfahren kann. Gleichnisse in Bildern zu erkennen, bedarf der Voraussetzung, in Bildern lesen zu können. Das heißt, dass etwas über das aus dem Bilde sinnlich Erfahrbare Hinausgehendes, sich als eine intellektuelle Ebene vom Gewußtem auftut und dazugesellt. Diese Kopplung des Wissens mit unserer normalen sinnlichen Ich-Erfahrung, diese Rückbeziehung erschließt uns die komplexe inhaltliche Bedeutung des Bildes. Gleichnisse sind also auf Kenntnisse angewiesen, zumindest ist es so, dass die Gestaltung des Bildes dem Betrachter wenigstens Rätsel aufgibt, die zu lösen er neugierig gestimmt wird.
Gerenot Richters druckgrafisches Werk, in nur einem Vierteljahrhundert entstanden, zeigt zunehmend eine Konzentration auf gleichnishafte Bilder. In einer sich verschränkenden Bezugnahme zwischen Mensch, Natur und Kunst begleitet Richter mit verschlüsselten Kommentaren seine Zeit. So bewusst ausgewählt und veristisch erfasst die zumeist landschaftlichen Motive in den Bildern auch erscheinen, so tiefsinnig sind sie in den raffinierten Kompositionen verwoben mit metaphorischen oder allegorischen Anspielungen und bewahren deshalb, über die Entstehungszeit in den letzten Jahren der DDR hinaus, ihre künstlerische Bedeutung.
Dem aufmerksamen Betrachter offenbaren sich in den Bildgeflechten und Bildlabyrinthen neue Gedankengänge, weil es scheinbar unaufhörlich etwas zu entdecken gibt. Dieses Finden und Erstaunen will kein Ende nehmen. Natur erscheint unendlich, quellend und wuchernd. Aber beim Wandern durch diese Bildwelt werden wir gewahr, dass Richter in diesem Naturzauber Gefährdungen nicht ausspart, sie geradezu als Signal hervorhebt und gewissermaßen Idylle und Katastrophe höchst dialektisch in einem melancholischen Blickwinkel auf die Welt erfasst.
Zugleich versteckt Richter in seinem Naturkosmos kleine Wissens- und Erkenntnisinseln, kreuz und quer und wohlbedacht der Kunstgeschichte entnommen. Dieses Einweben von Zitaten, so spielerisch und zufällig es erscheinen mag, vertieft nicht nur die Bildidee und weitet sie geradezu surrealistisch aus, sondern ist oft genug eine Huldigung gegenüber Künstlern, die Richter sehr verehrte, weil sie ihm mit ihren Bildfindungen und Figurationen beispielhaft nahestanden und Ausdrucksformeln für menschliche Befindlichkeiten weit über ihre eigene Zeit hinausgefunden und ersonnen hatten.
So verwundert es nicht, dass Richters Zeitreise bei den großen Moralisten frühbürgerlicher Aufbruchszeit Dürer und Breughel Anleihen aufnahm, weil in deren Bildern schon Zeichen gesetzt waren, zwischen denen die Menschheit wandelt: Himmel und Hölle, Paradies und Verdammnis. Die ethische Verwandtschaft führt Richter aber auch zu Künstlern des 20. Jahrhunderts wie Ernst Barlach, Gerhard Marcks oder Pablo Picasso.
Richters Bilder mit der üppigen Vegetation, den witzigen und anrührenden, bisweilen auch bildungsbeflissen anmutenden Einsprengseln aus dem kunsthistorischen Fundus, mit diesen Durchblicken auf Hintergründe und Hintergründiges verdichten sich zu großartigen Gleichnissen des Lebens schlechthin: Werden und Vergehen, Treue und Verrat, Bewahrung und Vernachlässigung. Insofern sind sie mit ihren Momenten der Katastrophendarstellung auch Bilder eines beinahe verzweifelten Warnens, dem, angesichts der Lage, nur noch ein Konstatieren der Situation mit vehementer Eindringlichkeit übrigbleibt.
Das Bild der Schändung der Natur wird zum Gleichnis für das, was Menschen angetan wurde, wird und werden kann. Es gibt wohl keinen Künstler, der bei der Darstellung von Bäumen mit derartiger Intensität wie Richter an das Menschsein und Leiblichkeit erinnert.
Neben diesen ernsthaften Querverbindungen, zu denen auch alternative Glücksorte zählen, an denen Liebespaare zu sich finden, fallen Skurrilitäten auf, Zitate, wo Richter Scherz und Ironie einbringt oder ein merkwürdiges Spiel betreibt, geheimnisvoll und vieldeutig, zuvörderst zeigend, dass er bei „seinen Meistern“ in die Schule gegangen ist. Durch die Jahrhunderte hat sich Richter gründlich in der Radier- und Zeichenkunst umgeschaut, denn man findet allenthalben in seinen Arbeiten Hinweise auf Albrecht Altdorfer, Hercules P. Seghers, Giovanni Battista Piranesi, Rodolphe Bresdin, Charles Méryon und andere.
Richters Suche nach Verwandtschaft war sowohl von handwerklicher Neugier als auch von einem besonderen Traditionsverständnis der realistischen Kunst geprägt. Realismus war für Richter kein dogmatisches Konzept. Authentische Schilderung, fußend auf fleißigem Naturstudium, genügte ihm nicht, eine zweite Gegenstandsschicht, jenes Hinzugewusste und intellektuell Anregende wurde angestrebt. Und oft kommt noch eine dritte Ebene ins Spiel, nämlich die provokant und verführerisch durch die verblüffend artifizielle Gestaltung an den Betrachter herangetragene Forderung, sich mit dieser komplizierten und komplex strukturierten Bildwelt zu beschäftigen.
Wenn auch das Betrachten der Werke Geduld und Muße erfordert, so wird der Augensinn und der Geist aber doch überreich belohnt: mit einem fantasievollen Bildgefüge, untersetzt von einer furiosen Idee und getragen durch eine unwahrscheinlich meisterhafte grafische Gestaltung. Unterschwellig ist das natürlich eine Kritik an der totalitären und zugleich seichten Bilderflut in unserer Mediengesellschaft.
Wichtig erscheint, dass Gerenot Richters Orientierung an dieser dichten und sehr langen Traditionslinie in der DDR-Kunst keine Einzelerscheinung war, wenngleich er mit seinen Arbeiten in der Ostberliner Kunstszene als Einzelgänger galt. Richter ist vielleicht unter diesem Aspekt mit Werner Tübke und dessen Schaffen vergleichbar. Dieser erwähnte in einem Interview, dass er auf einer „perforierten Zeitachse“ lebe und arbeite und zum Beispiel Jacopo da Pontormo als Kollegen ansehe. Der Personenkreis einer „gefühlten Zeitgenossenschaft“ ist in Richters Bildern ebenso offensichtlich.
Und hinzu kommt mit dem Beginn der 1970er Jahre, als Richter auf dem Wege zu seinem Individualstil war, eine generelle Zunahme poetisch-erzählerischer Momente in der DDR-Kunst sowie ein wachsendes und waches Bewusstsein der Künstler, was man mit Bildern an gesellschaftlicher Problematik ausdrücken kann. Bilder wurden oft zu Zeichen und Gleichnissen für soziale Befindlichkeiten, Auslöser für Diskussionen und sie gereichten im „Leseland DDR“ zum diffizilen Kommunikationsmittel, an denen es in den eigentlich dafür zuständigen Lebensbereichen fehlte.
Gerenot Richter hat sich auf seine Weise diesem Anliegen gestellt, verantwortungsvoll, ohne auf penetrant aktuelle Bezüge angewiesen zu sein. Der besorgte Ethiker, dem leider ein so genanntes Alterswerk nicht beschieden war, schuf Bilder, in denen das Leben hymnisch gefeiert und Verlorenes elegisch in Erinnerung bleibt. Und ebenso werden Richters Bilder bleiben, sind sie doch Ausdruck für ein sehr individuelles und sensibles Schöpfertum in einer widersprüchlichen Zeit, versehen mit sinnlich-geistvollen Flügeln, tragfähig auf Zeiten hinaus.
Abbildung: Gerenot Richter: II-222 Gleichnis II (Die Blinden), 1985/86