„Funde am Hohen Ufer“

Datum: 23.11.2016

Kapitel 4 der Gerenot Richter-Werkschau


Aus der Laudatio von Christina M. Wilsky zur Ausstellungseröffnung
am 23. November 2016 | Galerie 100 in Berlin-Lichtenberg

Ich begrüße alle, die gekommen sind, die Werke Gerenot Richters kennen zu lernen, alle, die seine Bilder wieder und wieder betrachten wollen, die mit mir das Schaffen Gerenot Richters ehren und bewundern. Ich begrüße seine Familie, ehemalige Kolleginnen und Kollegen, ehemalige Studentinnen und Studenten und die vielen Freunde seiner Kunst! Heute öffnet die Galerie 100 ihre Tür für das 4. Kapitel der Ausstellungsreihe, die thematisch gegliedert, das umfangreiche Schaffen des Künstlers und Lehrers Gerenot Richter zeigt!

Ich habe in den Jahren 1975 bis 1979 im Fachbereich Kunst der Humboldt-Universität Berlin studiert, also in einer Zeit, in der Gerenot Richter als Professor dort lehrte. Das Thema dieser Ausstellung „Funde am Hohen Ufer“ – Strandläufer und Meerwunder erinnert mich an ein Praktikum an der Ostsee gemeinsam mit Prof. Richter und Herrn Prusko, es erinnert mich an unsere zeichnerischen Versuche am Strand, um diese Entwürfe dann in den Räumen der Universität in verschiedenste Drucktechniken umzusetzen. Mit Naturstudien, die einen wichtigen Platz im Studienplan einnahmen, experimentierten wir und wir wurden vertraut gemacht mit den Geheimnissen der Bildgestaltung und vielen künstlerischen Techniken, auch so mancher sehr alten Technik, die längst vergessen schien wie zum Beispiel mit der Tiefdrucktechnik Mezzotinto oder der Reservage, ein Absprengverfahren bei der Radierung.

„Funde am Hohen Ufer“ – Strandläufer und Meerwunder

Prof. Richter war ein ernster, feinsinniger Mensch mit leisem Humor. Seine Sammlung lustig misslungener Studentenarbeiten hat er aber niemals öffentlich gemacht. (Ich hätte sie gern gesehen.) Später in meiner Lehrtätigkeit hatte ich dann auch so eine Sammlung und wusste, was er damals meinte. Seine Haltung als Dozent war gegenüber den Studierenden immer mit Achtung gepaart. Ich nahm ihn wahr als einen Menschen im Bewusstsein der Flüchtigkeit der Erscheinungswelt, in die er sich einbezogen wusste. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich von den unterrichtenden Dozenten ein Fundament erhalten hatte, auf das ich meine 40-jährige Tätigkeit als Pädagogin und Künstlerin bauen konnte.

Diese Ausstellung „Funde am Hohen Ufer“ ist, wie die vorhergehenden thematischen Ausstellungen, von Herrn Helmut Müller in enger Zusammenarbeit mit der Familie Richters gestaltet, und ich möchte anmerken, dass das Schaffen von Gerenot Richter in jeder Räumlichkeit so arrangiert wurde, dass dies ein eigenes Kunstwerk ist. Sehr interessant, wie Helmut Müller Gerenot Richters Experimente an einem Motiv oftmals so gegenübergestellt, dass der aufmerksame Betrachter die erstaunlichen Veränderungen in der Wirkung bemerken kann. Er hat eine Regie geführt, die unsere Blicke lenkt, die ästhetischen Genuss schafft und uns die Kunst erleben lässt!

Wir sehen hier 70 Werke Gerenot Richters zum Ostseethema, von den 1960er Jahren bis zum Jahr 1989. In zwei Räumen und einem Durchgang werden Handzeichnungen mit Bleistift, Feder, Filzstift und sogar farbige Arbeiten gezeigt, darunter zwei Öl-Bilder. Und natürlich Lithografien und die von ihm bevorzugten, mit Leidenschaft betriebenen Tiefdrucktechniken: Kaltnadelradierung, Ätzradierung und Aquatinta. Hier konzentrieren sich See und Strand – Motive mit all seinem Beobachteten, Gefundenen oder Erträumten.

Woran denken wir beim Thema Ostsee?

Welche Motive verbinden sich für uns mit der Ostsee? Wir denken an Strände, Steine, Muscheln, knorrige Hölzer, weite Himmel, Wolken, Schiffe, Boote, sich Sonnende, Strandläufer, Badende und mehr ... Alles das finden wir auch in der Bilderwelt Gerenot Richters! Ausgehend von den Aufenthalten an der Ostsee, entwickelte sich im Schaffen Gerenot Richters dieses Thema zu einem bedeutsamen, das sich durch sein Gesamtschaffen zieht, sein reifes Werk prägt und auf den Übergang zu seinen letzten Arbeiten weist. Mit diesem Thema hat sich die besondere Eigenart der Gestaltungskonzeption Gerenot Richters entwickelt.

Die Ostseebilder spiegeln Persönliches, sie spiegeln in bemerkenswerter Weise auch das Leben in der DDR. Die weiten Strände auf Rügen, Usedom oder Darß sind für viele ehemalige DDR-Bürger verbunden mit Urlaubserinnerungen, mit einem Abschalten vom Alltag. Hier konnte man eintauchen in ein Gefühl von unbeschwerter Weite und Freiheit, nicht zuletzt durch die legalisierte Freikörperkultur der Badeordnung (von 1956). Freiheit zu spüren, der tiefe Wunsch vieler DDR-Bürger, konnte hier gestillt werden. Die fröhliche Stimmung verband sich zugleich aber auch mit einer Ahnung von der Bedrohung des Lebens.

Da gab es die spürbar gewaltige Kraft der See und des Windes, den nicht zu überblickenden, weiten Landschaftsraum, die hoch aufragenden Kreidefelsen der Steilküste, die Steine und gestürzten Bäume. Werden und Vergehen erscheinen sichtbar ineinander verwoben. Dort, wo die Natur fortlaufender Veränderung unterliegt, dort wo der Mensch im Spannungsfeld gigantischer Kräfte steht, dort wird der Mensch sich seiner Winzigkeit bewusst! Da wächst Beunruhigung! Hier wird verständlich: Nichts bleibt, wie es war!

Das Motiv des Strandes und der See in den Werken der DDR-Kunst mit all seinen differenzierten künstlerischen Formlösungen, erscheint als Ort einer über die Grenzen der Menschen erhabenen Existenz. Die ostdeutsche Kunst – da können wir in alle Richtungen schauen, besonders aber zu den Künstlern der Leipziger Schule (die G. R. sehr schätzte!) – durchzieht die Liebe zur Ostsee! Das verwundert nicht. Vor dem Hintergrund einer hermetisch abgeschlossenen DDR wurde dieser Landschaftsraum Motiv für avantgardistische Pleinairs und Symbol für Fernweh. Es lässt sich erkennen, dass diese Ostseebilder über Privates hinauswuchsen und zu einem gesellschaftlichen Thema wurden, ja in besonderem Maße identitätsprägend! Das Werk Gerenot Richters gehört dazu! Hier fand Nachdenklichkeit, das Reflektieren über Humanität und über unser Naturverständnis einen Ausdruck.

Man kann unbescheiden sagen, dass viele Ostseebilder dieser Zeit bemerkenswerte, kunsthistorisch wertvolle Leistungen sind, die sich in die Reihe der konventionellen Strand- und Meerstücke stellen dürfen!

Er stand auf den Schultern der „Alten Meister“

In den Meisterwerken der Kunstgeschichte kannte sich Gerenot Richter hervorragend aus! Um es mit seinen Worten zu sagen: er stand auf den Schultern der „Alten Meister“, er trug ihr Können und ihre Werte weiter in seine Zeit, in unsere Zeit. An dieser Stelle möchte ich ganz besonders auf die vier großartigen Radierungen verweisen, die Gerenot Richter zum 450. Todestag Albrecht Dürers geschaffen hat. Zu den wunderbaren Radierungen Gerenot Richters gehören unbedingt auch die Strandläufer-Bilder, die Seestücke und die Meerwunder mit ihren rätselhaften Funden, wo Wirklichkeit und Gestaltung eine spielerische Surrealität gewinnen. Mein Blick blieb lange am Blatt „Strandläufer V“ aus dem Jahr 1977 hängen, eine Radierung, die Teile mit der Aquatintatechnik verbindet. Es entstand in den Jahren meiner Studienzeit, ich erkenne sofort im Vordergrund seine akribisch genau erfasste lederne Umhängetasche und ein Fernglas. Diese Gegenstände zusammen mit einem Handtuch befinden sich an einem, vom Wasser geprägten Holzpfahl, der an Vergehen und Wandel denken lässt, und der aufrecht, wie ein Obelisk, den linken Bildrand begrenzt. Immer wieder sind es die Dinge des Alltags, denen sich die Augen Gerenot Richters so liebevoll zuwenden, Dinge, die eine Ausstrahlung haben, die ich mit der Sprache von R. M. Rilke wiedergeben möchte: „die Dinge, die Dinge singen hör ich so gern“.

In den Arbeiten Gerenot Richters schaffen die behutsam gegliederten Tonwerte, die leisen und auch kräftigen Bewegungen vielfältiger Strukturen tatsächlich eine Rhythmisierung, die man hören kann! Schauen Sie nur auf die Dynamik der Linien, der Flächen und Strukturen! Gesehenes wird hörbar! Spannung baut sich durch die Verbindung der Gegensätze auf. Licht und Finsternis, Bewegung und Ruhe bedingen einander. Das von Menschenhand Geschaffene berührt das in der Natur Gewachsene, das Nahe korrespondiert mit der Ferne!

Als könne er über das Wasser laufen

Plötzlich nehme ich in der Ferne, am Ufer des Strandes den Strandläufer wahr, miniaturhaft gezeichnet, mittig an den unteren Bildrand gesetzt, kreisen meine Gedanken um ihn. Er schreitet, so als wolle und könne er über das Wasser laufen, er ist in Bewegung, will zu neuen Ufern!

Der Schreitende, ein bekanntes Motiv in der Kunst, steht in einer künstlerischen Tradition, die von der Antike bis in unsere Gegenwart reicht. (Ägypter / Rodin / Giacometti / Mattheuer). Dieses Motiv verbindet sich immer mit Bewegung, mit Aktivität, mit Kraft, mit dem Neugierigsein auf Neues, mit einem Aufbruch, mit Veränderungen, die sowohl persönlich als auch gesellschaftlich gedacht werden können, oft ohne zu wissen, wohin oder wie es weiter geht.

Mit einer Zeichenmappe unter dem Arm ist der Mann der See zugewandt, erinnert vielleicht an den Künstler selbst und erinnert auch an die Meditation des Mönchs am Meer von Caspar D. Friedrich. Möwen erheben sich in die Luft, sie assoziieren ein freies Leben. Erde und Wasser, Himmel und ein phantasievolles Wolkengebilde, welches Formen schafft, die vielleicht ein Pegasus sind oder ein Phönix? Ich kann versinkend träumen!

Der rechte Bildrand ist offen – hier fließt alles weiter wie das Leben. Ich entdecke, die Strandläuferbilder sind Sehnsuchtsbilder. Sie spiegeln eine tiefe Naturverehrung mit dem Wissen um ihre Verletzbarkeit. Eine so kleine bescheidene Arbeit von solch konzentrierter Größe, das macht für mich das Schaffen Gerenot Richters aus.

Verblüffende Perspektiven, Räume und Durchblicke, Mensch und Tier, Gegenstände oder Phantastisches! Klein – groß, dieser Aspekt wird typisch für die Bilder Gerenot Richters. Kleine Dinge, die er findet, zum Beispiel verwitterte Hölzchen werden im Bild Baumgiganten und einen Menschen oder ein Fahrrad muss man mit der Lupe suchen. Diese proportionale Veränderung der Wirklichkeit ist eine typisch surreale Konzeption.

In allen grafischen Blättern Gerenot Richters zeichnet die Radiernadel oder die Spitze des Bleistifts vielfältige Linien, filigrane Strukturen und manchmal stellt der Künstler Flächen daneben. So gestalten sich verblüffende Perspektiven, Räume und Durchblicke, Mensch und Tier, Gegenstände oder Phantastisches! Die gewohnte Wahrnehmung sprengend, führt uns die Kunst Richters zu unerwarteten Eindrücken und uns berührenden Gedanken.

Gerenot Richter gibt dem mit Demut vor der Natur Gesehenen eine bildkünstlerische Übersetzung, die aus der Beobachtung heraus ergänzt, zitiert oder erfindet. Er hat zu einer poetischen, unaufdringlichen Bildsprache gefunden, immer authentisch, mit höchster technischer Meisterschaft, die ein sensibles Sehen fordert. Seine Kunst ist eine Weide für unsere Seele. Wer sich darauf einlässt, wird beschenkt.

Danke fürs Zuhören.


„Funde am Hohen Ufer“ – Strandläufer und Meerwunder
Ausstellung vom 23. November 2016 bis 11. Januar 2017
Galerie 100 | Konrad-Wolf-Straße 99 | 13055 Berlin
Laudatio: Christina M. Wilsky
Musik: Barbara Ehwald (Sopran), Giedre Lutz (Klavier)