Aus der Laudatio von Roland R. Berger zur Ausstellungseröffnung
am 25. Oktober 2016 | Humboldt-Universität zu Berlin
Aus Anlass des 25. Todestages und des bevorstehenden 90. Geburtstags von Prof. Dr. Gerenot Richter haben seine Kinder sowie seine Gattin ein Ausstellungsprojekt zu seinem Gedenken angeregt, das in sechs Kapiteln einen Überblick zum künstlerischen Schaffen des Grafikers, Zeichners und Malers zeigt. Das Projekt wurde kuratierend und organisatorisch von Helmut Müller begleitet und betreut, einem Schüler von Gerenot Richter und profunden Kenner des Gesamtwerkes.
Zwei Ausstellungen sind bereits in Gransee-Dannenwalde und in Fürstenwalde gezeigt worden, diese hier ist die dritte in der Reihe, drei weitere werden noch folgen. Nun also hier im Lichthof der Humboldt-Universität zu Berlin die Stadtlandschaften unter dem Titel „Spree-Athen“, obwohl Richter nur einer Grafik diesen Titel gegeben hatte. Sie wird hier in mehreren Druckvarianten vorgestellt. „Spree-Athen“ aber doch, weil Berlin – Ost-Berlin, die Hauptstadt der DDR – zum Mittelpunkt des Lebens und der Schaffensort des gebürtigen Dresdners Gerenot Richter wurde.
Spreeathen – Eine kleine Abschweifung zum Synonym für die Stadt Berlin. Der Begriff wurde von dem Juristen und Dichter Erdmann Wircker 1706 anlässlich des zweihundertjährigen Bestehens der ersten brandenburgischen Landesuniversität Alma Mater Viadrina in Frankfurt / Oder geprägt. In einer Festschrift huldigte Wircker dem Landesherrn König Friedrich I. von Preußen:
„Die Fürsten wollen selbst in deine Schule gehn
Erdmann Wircker 1706
Drumb hastu auch für sie ein Spree-Athen gebauet,
Wo Prinzen in der Zahl gelehrter Musen stehn
Da wird die Weisheit erst in rechter Pracht geschauet.“
Das sind natürlich Vorschusslorbeeren, denn die mithin unter diesem Begriff zu erwartenden Bauten entstanden in Berlin erst viele Jahrzehnte später, selbst die Universität wurde ja erst 1810 gegründet (Leipzig als Pleiße-Athen, Jena als Saale-Athen, Sehnsucht nach einem Nationalstaat, getragen von antikisierender Bildungsbeflissenheit / „Spree-Athen“ – der Begriff wurde für und in der Stadt gutmütig gemeinter Spitzname dank der lockeren Berliner Mundart)
Gerenot Richter, 1926 in Dresden-Laubegast als Sohn eines Studienrates geboren, kam 1951, nach Schulzeit, Kriegsdienst und Gefangenschaft und als Neulehrer in Dresden sowie einem dort und in Leipzig begonnenem Studium der Fächer Kunsterziehung und Geografie nach Berlin und schloss an der Humboldt-Universität sein Studium ab und arbeitete fortan an „seinem“ Institut in der Burgstraße Nummer 26.
Die Ausstellung zeigt als früheste Arbeit eine Gouache-Malerei von 1953 mit Berliner Brücken. Der Standort für diese Darstellung, die malerisch überraschend französisch anmutet, ist gegenüber dem Institutseingang an der Friedrichsbrücke mit Blick auf die Spree Richtung Nordwesten. Das Motiv kehrt in Richters Werk immer wieder. Dieser Kiez wurde seine Arbeitsheimat, nicht nur von der Burgstraße aus. Aber die Sicht aus den oberen Etagen des Instituts, auch von Dach in alle Himmelsrichtungen hatte einen ungemein starken Reiz. Dieser Blick nährte sogar Gerenots Hoffnung auf Genesung, eine letzte Rundumsicht ist ein rührend-zeichnerischer Gruß an seine Frau Ingeborg.
Richters Berliner Stadtlandschaften haben, vor allem in den 1960er und 1970er Jahren, ihren Beobachtungsmittelpunkt: Burgstraße 26. In diesen beiden Jahrzehnten, die von ehrgeizigen und imponierenden Bauprojekten in allen größeren Städten der DDR geprägt waren, sind die Richterschen Arbeiten zu Berlin vedutenhaft genaue, geradezu die Bauentwicklung begleitende Dokumentationen. Die Art des Zeichnens vereint akribisches Erfassen der Bauwerke und Straßen mit abstrakten Schraffierungen als zeichnerische Wiedergabe einer als dynamisch empfundenen Atmosphäre. Diese Konzeption des grafischen Ausdrucks ist in den Handzeichnungen ebenso zu finden wie bei den Lithographien im Druckgrafischen. Es war gewissermaßen eine formelhafte Zeichenfindung für diese Aufbruchs-und Aufbaujahre.
Helmut Müller, der mit Ekkehard Richter die Ausstellung aufgebaut hat, ließ sich beim der Hängen der Bilder – ein Glück für Berlin- und Kunstkenner – von Sinn stiftenden Reihungen oder Gegenüberstellungen didaktischer Art leiten, die historische Entwicklungen und Abläufe in der Architektur Berlins bildhaft vergegenwärtigen und oft auch unterschiedliche Druckfassungen als künstlerisches Äquivalent vorstellen. Das wird besonders bei den Tiefdruckgrafiken Richters deutlich, die häufig erst als linear und strukturell vorangetriebene Bildgespinste erarbeitet und gedruckt wurden und nachfolgend mit den flächenfüllenden Körnungen verschiedener Grautöne der Aquatintatechnik einer Verwandlung unterzogen wurden. Im Vergleich der Druckgrafiken wird man bemerken, dass die Komposition und das räumliche Gefüge neue Akzente ausleuchtet und das Helldunkel der Bilder einer dramatisierten Lichtregie folgt.
Gerenot Richter hatte inzwischen bei der Betrachtung der Welt und der Natur vielfältige Erfahrungen gesammelt. Richtschnur waren ihm die alten Meister der Weltkunst, allen voran Albrecht Dürer. Vom Menschen verschonte oder nicht beachtete Bereiche in der Natur und freien Landschaft faszinierten und verführten ihn zur Erprobung einer bildhaften Wiedergabe. Nahezu versteckt waren seine einsamen Arbeitsaufenthalte am Motiv. Etliche Werkgruppen in den späten 1970er und beginnenden 1980er Jahren zeugen von dieser beobachterischen Besessenheit (Strandläufer / Zitate aus dem Bildarsenal Dürers / Strand- und Tagebaulandschaften / Pflanzen, alte Bäume und Fossilien / Schicksale in der Natur-Blattfolge „Nach dem Sturm“ u. a.). Richter schuf, diesem Impetus folgend, die großformatigen Grafiken seiner Gleichnisse. „Gleichnis I“ wird hier stellvertretend gezeigt.
Die gewonnenen neuen Gestaltungsmöglichkeiten sind zum Beispiel die wuchernde Dichte des gezeichneten Bildnetzes mit verschiedenen Tiefen der Räumlichkeit bei einem üppig überbordenden Vordergrund und vehementen, gar gleißend hellen Durchblicken in die Ferne oder die im Bildgefüge versteckten Gegenstände, Zitate aus Werken der alten und neuen Meister, gleichsam im Bilddickicht eingeschlossene Geistesinseln. Die etwas kleineren Formate der Berlin-Bilder in den 1980er Jahren bedienen sich der neuen Qualität der Bildsprache. Vielleicht sind sie nicht von der Wucht, der Naturkraft, der düsteren Romantik und dem geheimnisvollen Märchenzauber wie die Blätter der Gleichnisse erfüllt, so eint sie aber andere Gemeinsamkeiten.
Bei diesen Grafiken Richters besticht und beeindruckt das Authentische des Menschenwerks Architektur als bewundernswerte Schöpfung, als geschichtsträchtiges Zeichen mit einmaligem Nimbus, aber ausgesetzt den Symptomen der Vergänglichkeit, zeitlich bedingtem Zerfall oder der Zerstörung durch Gewalt von Menschen im Krieg. Die Bilder erfassen die Bestände von Bauensembles und deren historisches Schicksal in der Mitte Berlins. In der bildlichen Vergegenwärtigung Richters erfahren die Kulissen und Zeugen der stadtgeschichtlichen Kultur eine gleichnishafte Bestimmung und sollen als Mahnzeichen kultureller und geistiger Besinnung verstanden werden.
Auf Staffage wie in den großen Gleichnissen verzichtet Richter, baut aber deutliche Hinweise ins Bild. Sie sind schriftlicher Art bei der Ruine des Neuen Museums, oder eine raffinierte Lichtregie beherrscht die nächtliche Museumsinsel, oder konkrete Bauwerke sind in Durchblicken zu entdecken (Palasthotel, Berliner Ensemble, Charité-Hochhaus), oder bestimmte Bildobjekte entfalten eine eigene Symbolik (die zeigerlose Uhr, das Dekor von Hans Poelzig als Grazien eines Revuetheaters), oder gar die Phänomene jahreszeitlicher Natur (die brüchigen Eisschollen vor dem Dom im Nebel, ein tiefschwarzer Nachthimmel mit den Lebenszeichen erleuchteter Fenster im Museum) – alles deutet auf das Werden und Vergehen, aber auch auf die Möglichkeit des Bestehens, wenn sich der Mensch darum bemüht und kümmert. Dass die Ausstellung an andere Städte im In-und Ausland bildhaft erinnert (Moskau, Leningrad / St. Petersburg, Budapest, Rostock, Bautzen, Hoyerswerda, Putbus u. a.) zeugt auch von einer farbigen Weltläufigkeit im Werk des eigeschworenen Grafikers Richter.
Ein wichtiges Blatt vermisse ich allerdings. Richters Geburtsstadt Dresden ist nur mit zwei Arbeiten mehr touristischer Art präsent. Gern hätte ich die Kaltnadelradierung „Vita III“ von 1982 hier gesehen. In dem Blatt schläft das Christuskind (nach Mantegna gezeichnet) friedlich in einer schützenden Pflanzenhöhle, die auf den bizarren Trümmern der im 2. Weltkrieg zerstörten Dresdener Frauenkirche wächst (WV: II-169). Ein erinnernder Einschub meinerseits.
Ein richtiger Richter-Schüler bin ich nicht gewesen. Gerenot Richter war nur ein Semester lang mein Lehrer. Nach dem Studium als sein jüngster Kollege lernte ich ihn auf Dauer als Freund kennen und schätzen. Mit ihm konnte ich über alles sprechen, auch über Privates und heikle Bereiche in der Politik. Ich hatte volles Vertrauen zu ihm, da ich wusste, dass er zu schweigen vermochte. Gern habe ich dienstliche Aufträge von ihm übernommen. Wir waren uns in fast allen Belangen konzeptionell, praktisch und politisch einig und arbeiteten zuweilen sehr eng zusammen.
Gerenot war mir stets in vielerlei Hinsicht Vorbild: Ein Sachse mit preußischen Tugenden, wie Pünktlichkeit, umsichtige Neugier und waches Informiertsein, Zuverlässigkeit und natürlich Fleiß und Ausdauer. Zu jedem Termin kam er gut vorbereitet und ernsthaft-gutgelaunt. Als Künstler tendierte er zum Einzelgänger, zum Dürerschen Hieronymus. Er war ein wahrhaft begnadeter Druckgrafiker.
Gerenots Unterricht wurde gern besucht. Es gab etliche Studenten, die seiner Kunst nacheiferten.
Im Kollegium hatte man den Eindruck, dass er Wert darauf legte, als beliebteste Lehrkraft zu gelten. Manche seiner Eigenheiten deuteten darauf hin. Jedoch konnte Gerenot in bestimmten Situationen auch ein mutig-trotziger großer Junge sein, ein eigenwilliger Kämpfer. Einige seiner Eskapaden sind Legende geworden, etwa seine wagehalsigen Klettereien auf dem Institutsdach, um es zu reparieren.
In den 1980er Jahren hatte Gerenot Richter zu sich selbst als Künstler gefunden und konnte sich ganz auf seine Passion konzentrieren. Seine Kunst, inzwischen gereift und gewachsen, war eine solide monolithische Basis für seinen Ruf als Hochschullehrer und Kunstschaffender. Ich freute mich für ihn und war sehr betroffen, dass ihm auf Grund seines unerwartet frühen Todes kein Alterswerk beschieden war. Vielleicht war es aber gut, dass Gerenot so die letzten Jahre und damit die Verunglimpfung, Schmähung und Vernichtung des Instituts für Kunsterziehung, das ja wesentlich auch sein Mittelpunkt und Lebenswerk war, in den Wendewirren nach 1990 nicht mehr erleben musste, als sich die Humboldt Universität gegenüber einer fragwürdigen Bildungspolitik des Berliner Senats sehr ergeben und folgsam erwies.
Geschichte hinterlässt Geschichten, Zeugen und Zeugnisse. Zu den Zeugnissen gehört die Kunst der jeweiligen Zeit, auch die Werke der Kunst von Gerenot Richter.
Freuen Sie sich in dieser Ausstellung über die Gelegenheit zu wundersamen Entdeckungen, zu Genüssen des Anschauens und vielleicht zu einigen persönlichen Erkenntnissen zu gelangen – an Hand der ehrlichen, menschennahen und substantiell hochkarätigen Kunst von Gerenot Richter.
„Spreeathen“ – Stadtlandschaften
Ausstellung vom 25. Oktober bis 16. November 2016
Humboldt-Universität zu Berlin | Hauptgebäude, Lichthof Ostflügel | Unter den Linden 6 | 10177 Berlin
Laudatio: Roland R. Berger
Musik: Maria Richter (Cello), Mathies Rath (Gitarre)