Die Radiernadel des Naturphilosophen

Datum: 29.05.1997

Gerenot Richter als „Meister des Kupferstichs“ im Greizer Sommerpalais

Zur Frühjahrszeit sollten wir kleine Entdeckungsreisen nach nebenan machen, um uns in sanfte und dennoch kraftvoll beredte Kunstdinge zu vertiefen, ja, versenken.

Warum nicht das Radierwerk des Gerenot Richter (1926–1991) in vollem Umfang entdecken? Zum Glück hat seine Witwe Ingeborg Richter den kompletten grafischen Nachlass zum Ausstellen freigegeben. Und zum doppelten Glück war eine vorzüglich edierte Katalog-Monografie pünktlich zur Eröffnung im Sommerpalais Greiz Ende März präsent. Der Berliner Kunsthistoriker Dr. Gisold Lammel interpretiert darin gründlich und kenntnisreich „Gerenot Richters gleichnishafte Bilddichtungen“. Und die etwa 60 Abbildungen ermöglichen detaillierte Einblicke in Richters Bildwelt.

Greiz ist für diese „Meister des Kupferstichs“ betitelte Ausstellungsreihe durch die hier beheimatete „Bücher- und Kupferstichsammlung“ ein idealer Ort. Zur Eröffnung umriss Dr. Lammel Wesentliches am Phänomen Gerenot Richter: Als immer schon Lehrender reifte er als ständig Lernender an den Renaissancemeistern mit Dürer an der Spitze.

Grüblerischen Naturells, zeichnete der besorgte Ethiker sein Mitempfinden mit der geschundenen Natur. Sinnlich Wahrnehmbares ins Geistige, ja, in philosophische Bereiche zu transponieren, war sein Ziel. Die in ihren überfeinerten Tonwerten auf den ersten Blick konventionelle Formsprache enthüllt auf den zweiten Blick ein Wachstumsadern und Bewegungslinien nachspürendes filigranes Geflecht.

Affinität zu wachsendem und vergehendem Holz

Beim Rundgang durch den noch winterlich kühlen Gartensaal wurde mir schnell warm ums Herz. Eigene Naturerlebnisse und Kunsterfahrungen wurden schnell lebendig. Die mir ungeheuer vertraute Affinität zu wachsendem und vergehendem Holz bewegte mich mindestens ebenso sehr wie die vergleichende Kunstbetrachtung zu künstlerischen Zeitgenossen und Weggefährten.

Ist der magisch verklärte, aber handwerklich grundsolide Realitätssinn dieser Kunst mit einer Vokabel wie „modern“ überhaupt erfassbar? Prallt das ideologische Verdikt für „Realismus“ daran nicht ebenso ab wie der Vergleich mit dem gefälligen Marktgängigen? Wobei zu letzterem kurioserweise das oberflächliche Gerenot-Richter-Epigonentum eines Walter Herzog ebenso gehört wie die mit Millionenbeträgen aufgewogene Kunstproduktion eines Gerhard Richter. Der eine Richter ging aus Dresden in die weite Welt, den Kunstmarkt zu beherrschen, der andere kam von Dresden nur bis Berlin, der Ausbildung von Kunsterziehern zu dienen.

Sei es drum. Schön zu sehen, wie diese feinsinnigen Nachspürungen an Holz- und Steinformen und Wasserströmen weiterhin ein hoffentlich nicht nur sächsisch-thüringisches und berlinisches Publikum finden. Und einen aufgeschlossenen Museumshausherrn in Greiz wie Gotthard Brandler sowie einen tüchtigen Verlegerfotografen wie J. M. Pietsch mit seiner „Edition Schwarz Weiß“ in Spröda bei Leipzig.

Was übrigens Greiz und sein Sommerpalais betrifft – da gibt es noch dieses Jahr im August wieder eine Karikaturen-Triennale. Tatsächlich – und genauso ernst gemeint wie „Meister des Kupferstichs“.


Staatliche Bücher- und Kupferstichsammlung Greiz: Gerenot Richter.
Meister des Kupferstichs.

Abbildung: Gerenot Richter, WV II-072 Fossile Braunkohle, 1977, Radierung, 24 x 32 cm

Text: Harald Kretzschmar