Merkwürdigkeiten

Datum: 14.11.1996
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Bei der stillen Betrachtung der Grafiken von Gerenot Richter, ertappe ich mich, dass ich mal bei diesem, mal bei jenem Blatt länger verweile. Der Blick wird von einer feinnervig faszinierenden Bildwelt eingefangen, wandert in einer grafischen Urnatur, die man meint, so noch nicht wahrgenommen zu haben. Das stete Erstaunen über diese Üppigkeit an Geschautem und Erfundenem gipfelt in einem Wort ersten und naiven Reagierens: Merkwürdig!

Greifen wir auf dieses Wort zurück, so sprechen wir es, meist an uns selbst gerichtet, mit einer gewissen Verzögerung aus und verleihen damit unserer einsetzenden Nachdenklichkeit Ausdruck, über die wir in diesem Moment selbst verwundert sind.

Die Grafiken von Gerenot Richter konfrontieren den Betrachter in vielerlei Hinsicht mit Merkwürdigkeiten. Bei Bildern, die auf den ersten Blick beiläufig erscheinen, verfängt sich unser Sehen sofort in der eigenartigen Ausdrucksweise des Künstlers. Mit dem dichten Heranrücken an die sichtbare Wirklichkeit, dem scheinbar klaren und akribischen Darstellen gibt uns Richter eine Markierung besonderer Art: Er zeigt uns, was er das Merkens für würdig befunden hat. Er ist unterwegs gewesen für uns, hat in Abgeschiedenheit etwas entdeckt und für uns aufbereitet, ein Hieronymus im Gehäuse. Am Ergebnis lässt er uns teilhaben. Die Bildsprache Richters mit all ihrem grafischen Reichtum an Strukturen und Schraffuren, den Wucherungen und Durchbrüchen in den verschiedenen Raumebenen, den Verschiebungen der Perspektiven, der Detailversessenheit und verblüffenden Authentizität, alles zielt auf ein demutvolles Anschauen der Welt, konstatierende Akzeptanz und freudig-fleißig Huldigung in einem.

Spätestens hier, bei der Wahrnehmung einer solchen Fülle, spürt der Betrachter, dass in dieser Bildwelt ein Geheimnis stecken muss, ein rätselhafter Wert, vom Künstler für würdig befunden uns auf ein seltsam und auf seltsame verwunderliche, vielleicht sogar märchenhaft verwunschene Weise mitgeteilt zu werden. Vielleicht steckt der Wert sogar im Suchen …, wer weiß.

Etwas zu merken, sprich zu entdecken, und ihm den Rahmen eines Wertes zu geben, eben das Hervorzaubern von Merkwürdigkeiten, hat die Gabe genauen Beobachten, vertieften Betrachtens und besinnenden Denkens zur Voraussetzung. Diese Sensibilität des Sehens und Fühlens besaß Richter in hohem gerade Punkt der Vergleich zwischen den Zeichnungen und den Druckgrafiken belegt nicht nur die Variabilität in den Bildfindungen, sondern ebenso die Verdichtung der Bildideen. Da sind auch didaktische Momente spürbar, denn als einfühlsamer und konsequenter Pädagoge nutzte Richter seine Mittel bewusst zur behutsamen Führung des Betrachters, und er wusste sicher auch um die Möglichkeiten der sanften Verfügung, der sich der Kunstfreund gern hingibt, wenn er in handwerkliche Perfektion und geistvollen Hintergrund schwelgerisch eintauchen darf.

In diesem Zusammenhang ist auf die Besonderheit der häufigen Bildzitate bei Richter zu verweisen. In den wunderlich entrückten, rauschhaft knospende oder katastrophal vergehende Natur zeigenden Bildern, sind in Durchblicken, Höhlungen oder Inseln plötzlich Entdeckungen anderer Art auszumachen: Wir erkennen und begrüßen mehr oder weniger bekannte Figuren als kunstgeschichtliches Zitat. Der Bogen spannt sich von Dürer bis Picasso. Die Zitate sind Verbeugungen und versteckte Hommagen. Gemeinsam ist den „Gästen“, dass ihre Metaphorik gewahrt bleibt und in der neuen Umgebung weiterreichende Bedeutung, manchmal auch mit aktuellem Bezug, erhält. Dieses Zitieren längs durch die Kunstgeschichte verweist auf Traditionslinien, in deren künstlerischen und ethischen Anspruch sich Richter selbst sah und verpflichtet fühlte. Er verwob die Figurationen seinem Hauptthema, der Dialektik des Werdens und Vergehens. Die intellektuellen Zugaben haben manchmal etwas Schemenhaftes, fabulierend Spielerisches, ohne dass der Grundzug des melodiös Melancholischen, des skurril Dionysischen oder des zumeist staunend Hymnischen infrage gestellt wäre. Die Lobpreisung des Lebens und der Natur vollzog Richter mit naiver Ehrfurcht und humaner Verantwortung.

Angesichts der allgemeinen Zivilisationskrise sind die Bilder Gerenot Richters mit eigenwilliger Ästhetik vermittelte Signale, deren Ethos des Bewahrens und der Besinnung auf Werte, die zum Reichtum des menschlichen Daseins gehören, merkwürdig und vernünftig erscheint.

Roland Berger

In: Gerenot Richter. Katalog zur Ausstellung Studio Bildende Kunst Berlin Lichtenberg und Bürgerhaus Glienicke / Nordbahn.

Herausgeber: INVENTOR e.V., Redaktion Helmut Müller, Gestaltung Marc Berger