Matthias Mende 1990 in DÜRERIANA
Ein Mann der Stille, der Wehmut und der leisen Töne. Im hektischen westlichen Kunstbetrieb übersehen – was zählen schon intellektuelle Fähigkeiten und technische Brillanz? Als wir ihn 1980 für unsere Ausstellung „Dürer A – Z“ entdeckten, zählte sein druckgrafisches Werk schon über zweihundert Nummern. Seitdem wuchs es weiter, imponierendes Alterswerk eines Mannes, der weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
Mit Dürer, überhaupt mit der Kunstgeschichte, erweist sich Gerenot Richter als vertraut. Es gibt wohl gegenwärtig keinen Radierer, der Dürer als Zeitgenossen so selbstverständlich akzeptiert. Richter hat den meisten voraus, dass er den Gesang der Meerjungfrauen hören kann. Er schaut hinter den gekrümmten Horizont, stößt in Bereiche des Vergeistigten vor. Dabei ist er „Realist“ und absolut kein Träumer. Seine kleinteilige Kunst zwingt zum genauen Hinsehen. Nichts für Ungeduldige und Kurzsichtige!
Auf den ersten Blick sieht man nur Strandgut, vom Wasser ausgelaugte, verrottete Pfähle. Bei längerer Betrachtung erwacht das tote Holz zu spukhaftem Leben, man glaubt Gesichter zu sehen, wo eben noch Maserung war. Gedanken an die Vergänglichkeit der Welt stellen sich ein. Verblüfft wird man gewahr: Der Wolkenhimmel ist anaturalistisch, steht Dürer'scher Linienkunst näher als Naturschauspielen, wie man sie von den Küsten kennt. Ins sureale kippt die Szene, identifiziert man die Hauptgruppe aus Dürers „Meerwunder“, die links am äußersten Pfahl erscheint. Der dämonische Greis mit dem fantastischen Gehörn mit der jungen, von ihm geraubten Schönen auf dem Rücken. Gerade weil der Stich inhaltlich so rätselhaft ist, zog er Richter an. Schon in der zum 450. Todestag Dürers 1978 geschaffenen Radierung „Das Meerwunder“ begegnet er uns.
Der Text von Matthias Mende wurde entnommen aus:
DÜRERIANA: Neuerwerbungen der Albrecht-Dürer-Haus-Stiftung e.V. Nürnberg,
Nürnberg: Verlag Hans Carl, 1990, ISBN 3-418-00349-4, Nr. 114