Gerenot Richter in der Neuen Dresdener Galerie

Datum: 12.12.1985

Gedanken von Gisold Lammel

Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
Neue Dresdener Galerie
Katalog zur Ausstellung „Gerenot Richter – Radierungen“ (1985)

Vor einem Jahrzehnt fand er seinen künstlerischen Weg. Alles, was vordem entstanden ist, bleibt, gemessen an Späterem, nur Ausdruck seines Ausschreitens von Gestaltungsmöglichkeiten und des Suchens einer ihm gemäßen Bildsprache. Er erreichte dieses Ziel in einem Prozess großer produktiver Anspannung und durch die Konzentration auf den Tiefdruck. Mit Folgen wie „Strandläufer“ (1976-1977 und 1981), „Zum 450. Geburtstag A. Dürers“ (1977) und „Nach dem Sturm“ (1980 / 1982), aber auch mit Einzelblättern wie „Fossile Braunkohle“ (1977), „Gleichnis“ (1983) und „Ging heut' morgen übers Feld – Gustav Mahler“ (1983 / 1984) schuf er Radierungen, die viele Grafikfreunde aufmerken ließen.

Richters Bildwelt lässt eine bewegliche Fantasie erkennen, die von der Liebe zum Menschen, zu Natur und Kunst getragen wird. Er berührt vornehmlich existentielle Probleme, mitunter ganz aktuelle Ereignisse, immer jedoch Fragen, die uns interessieren. Immer wieder kreisen seine Gedanken um Bedrohungen und Gefährdungen der uns umgebenden Natur wie des Menschen und seiner Werke. Dabei neigt er zu sinnbildhafter Darstellung und Grenzüberschreitungen der Genres, wobei allenthalben seine Liebe zum Stillebenhaften aufleuchtet. Unstreitig liegt der Schwerpunkt seines Schaffens in der Gestaltung von Naturlandschaften, die er manchmal zum Kulturpanorama verdichtet oder zur „paysage moralisé“ werden lässt und in denen sich seine unbändige Lust an wachsender und wuchernder Vegetation Bahn bricht. Seine Bildschöpfungen weisen eine eigenartige Mischung von Sachlichkeit und fantasievoller Poesie auf und führen häufig auch eine eigentümliche, ja mitunter irritierende Kombinatorik vor Augen. Dabei vermag er, scheinbar Disparates zu höherer geistiger Bedeutsamkeit und stimmungshaftem Bildganzen zu bringen. Manchmal ist es gar nicht leicht, den Schlüssel zum Bild in dem Dickicht der Formen ausfindig zu machen.

Für sein jüngstes Schaffensjahrzehnt ist charakteristisch, dass er des Öfteren deutlich erkennbare Bezüge auf ältere Kunst vornimmt, Zitate in seine Bildwelt einfügt und Kunsttradition bekennt. So lässt er Figuren gestaltungsmächtiger Künstler der Vergangenheit, insbesondere solche von Dürer und Bruegel d. A., in seinen Landschaftsräumen und Interieurs agieren. Seine Bilder leben aber nicht von den fremden Erfindungen, sondern die Schöpfungen der anderen leben in Richters Bildwelt mit anderem Sinne fort. Diese Dialoge mit älterer Kunst, die dem kunsthistorisch Bewanderten Entdeckerfreude bereiten, folgen keinem Schema und lassen keineswegs Brüche, wohl aber Aufmerksamkeit erregende Spannungen entstehen. Die Einordnung fremden Formengutes rechnet mitunter mit mehrfacher Ausdeutung.

So erscheint beispielsweise auf der Radierung „Melencolia“ (1977) der reichdrapierte Schoß der Melancholie des Dürerschen Meisterstichs als Steilküste, die zugleich auch an verhängte Landschaften Javacheff Christos erinnert. Allerdings beschränkt sich dieses Spiel mit der Mehrdeutigkeit von Formen keineswegs auf Zitate, er nutzt es vielfältiger, um auf diese Weise Landschaften zu vermenschlichen und seltener auch, um Menschen zu „verlandschaftlichen“.

In Richters Arbeiten offenbart sich ein reges Wechselspiel von Bewusstem und Unterbewusstem. Seine Bildlösungen sind zwar wohl durchdacht, erscheinen jedoch keineswegs ausgeklügelt und bis ins letzte ausgetüftelt. Seine Fabulierlust will er nicht ins Joch spannen, und deshalb überträgt er niemals Handzeichnungen unverändert auf die Druckplatte. Folgt seine Bildgestaltung auch keinem festen Plan, so zeigt sie doch Vorlieben, so beispielsweise die für Nahsichtlandschaften mit stillebenhaft ausgeformtem Vordergrund, der sich barrierenartig über die gesamte Bildbreite entwickelt und dadurch den Bildraum schwer zugänglich macht. Des Öfteren begegnen wir auch einer dualistischen Raumstruktur, die mit einer auffälligen Mittelgrundschwächung verbunden ist. Menschliche Figuren – sie erscheinen zumeist recht klein und als Teil eines großen Ganzen begriffen – drängen nicht aus dem Bild, sie sind unterwegs oder verharren und deuten Beziehungen zur Umwelt an.

Häufig kehren Chiffren der Vergänglichkeit wieder: Versehrte Bäume, ruinöses Gerät, verfallene Häuser und Kunstfragmente. Sie machen auf Wandlungen und Veränderungen aufmerksam und sind in der Regel geschichtsbeladen, faszinierend und fantastisch. Richter ist eine gewisse Vorliebe für miniaturhafte Darstellung eigen, die unter der Lupe noch eine ganz präzise Ausformung der Details erkennen lässt. Diese feine Durchbildung des einzelnen ist ebenso auffällig wie die Zusammendrängung vieler Einzelheiten. Die dichte Versammlung der Formen nimmt oft das gesamte Bildfeld in Anspruch, dabei auch einen feinen Sinn für ornamentale Wirkungen offenbarend. Sein „horror vacui" erinnert an die Gestaltungsweise deutscher Künstler des 15. und 16. Jahrhunderts, mit der er sich gründlich auseinandergesetzt hat.

Richters Kompositionen durchströmt ein eigener Rhythmus, der dem Einordnen aller Teile unter einer Gesamtwirkung dienlich ist. Die Rhythmisierung von Strichen und Liniengefügen verdichtet, vertieft, schafft Umrissverwandtes, stellt Formenbezüge her und erfaßt die vielgestalteten Strukturen seiner gegenständlichen Welt. Besagte Strukturen geben nicht nur Auskunft über Formenverlauf, Oberflächenbeschaffenheit und Aufbau des jeweiligen Materials, sondern sind darüber hinaus wichtige Träger von Stimmungswerten. Oft schwelgt er förmlich in verkräuselten undverschnörkelten Linien, komplizierten Strichgefügen und subtilen Abstufungen von Tonwerten. Eine vom Kupferstich der deutschen Renaissance beeinflußte Radiertechnik hat er sich offenbar zu eigen gemacht. Seine Bilder webt er nicht mit einem einheitlichen Raster von Strichen oder Punkten, sondern er benutzt vielfältigere grafische Elemente und bietet dadurch dem tastenden Auge reichliche Nahrung.

Die Auseinandersetzung mit den Stichen der „Dürerzeit“ ließ ihn die eigenen grafischen Mittel erweitern und auskosten, zeigte ihm Methoden zur Charakterisierung von Materialität und der abstrakten Füllung der Felder zwischen den Gegenständen, Möglichkeiten der Schaffung von formklärenden Tonwerten sowie der rhythmischen Einbindung der Details ins Bildganze. Meist geht er bei der Gestaltung von Strukturen mit Konturlinien mit, Ausdehnung, Wachstum und Bewegung anklingen lassend; gelegentlich lässt er aber auch Strichgefüge sich gegen diese stemmen und bewirkt somit eine zusätzliche Spannung.

Sehr oft bezieht Richter die Aquatinta in seine Gestaltung ein, um einerseits durch Zurücknahme von Detailhärten eine stärkere Vereinheitlichung der Teile zu erwirken, andererseits aber, um atmosphärische Wirkungen und Stimmungswerte einzubringen. Weder Effekthascherei noch leichtfertiger Verzicht auf Formenklärung bestimmen dabei sein Tun. Auch wenn er von vornherein die Aquatintatönung in seine Bildlösung einplant, erfasst er zunächst alle Elemente klar und rein, wohlwissend, dass viele der Linien und Strukturen verdämmern oder gar ganz verschwinden werden. Auch auf diese Weise bietet er eine weite Spanne zwischen prägnanten und nur noch ahnbaren Formen dar.

Gewiss, Richters Arbeiten verlangen große Schaubereitschaft, aber dafürvermögen sie auch häufiger Betrachtung standzuhalten, weil sie reiche Sinnenerfahrung und uns berührende Gedanken in einer unaufdringlichen und gediegenen, phantasie- wie gefühlsbetonten Bildsprache mitteilen. Es ist zweifelsohne eine ganz persönliche Bildsprache, die in sehr subjektiver Weise Zeitgeist reflektiert und unsere Kunst bereichert.