Aus einem Brief von Gerenot Richter an eine Kritikerin vom 20.02.1985
Die „Überfülle des präzise Dargestellten“ und das „akribische Festhalten an jedem Detail“ ist für mich eine Gestaltungsweise, der auch schon Gisold Lammel nachgegangen ist und die er als eine Art „Horror vacui“ zu erklären versucht. „Überfülle“ ist für mich zunächst ein von der Wirklichkeit diktierter Sachverhalt. Was ich aus ihr wähle, wie ich dann ordne und mit welchen Gestaltungsmitteln ich darlege und rhythmisiere, betrachte ich als einen wesentlichen inhaltlichen Zusammenhang meiner grafischen Arbeit.
Dabei entspricht die Behandlung des Details meiner Achtung vor der gegenständlichen Welt als Ganzes. Insofern erlangt ein Grasbüschel die gleiche Aufmerksamkeit der Durchbildung wie ein ins Auge springender bedeutungsträchtiger Gegenstand des Bildes.
In diesem Zusammenhang wage ich den Vergleich mit Werken der Baukunst: Obwohl der Betrachter die plastische Ausformung der Turmspitze eines gotischen Turmes im Detail nie erfassen und auch nicht überprüfen kann, hat der Steinmetz sein Werk mit Akribie – zu Ehren Gottes – gefertigt. Ich weiß natürlich um das „Offenbleiben in grafischen Schilderungen“ eines Niemeyer-Holstein, würde aber mit der Feststellung dieses Gestaltungsprinzips nie eine Wertung verbinden, weil ich bezweifle, dass bei ihm – aufgrund des Weglassens – „mehr gesagt ist“ als etwa mit einem „übervoll“ durchgebildeten Blatt Dürers.
Zweifellos will ich die Lesbarkeit meiner Grafik bis ins Detail festlegen und dem Betrachter auch nach mehrmaligem Durchwandern des Bildes neue inhaltliche Zusammenhänge im gegenständlichen Bereich eröffnen. Wichtige Bildobjekte werden oftmals so in ihre Umgebung verwoben, dass sie auf Anhieb nicht wahrgenommen werden; sie wirken fast versteckt – erst, wenn man sie wirklich „entdeckt“ hat, lassen sie einen nicht mehr los und bilden einen neuen Ausgangspunkt für die inhaltliche Erschließung des ganzen grafischen Anliegens. Ich würde das nicht „Konstruiertheit“ nennen. Der Zufall regiert durch meine nicht unumstößliche, manchmal sehr vage kompositorische Vorarbeit so stark, dass ich oft erst im Nachhinein eine künstlerische Entscheidung bereue, die lediglich abhängig war von der Bindung an die Sachwelt.
Herzog, den Sie vergleichend heranziehen, verfremdet seine naturnahen Ansichten mit raffinierter Aussparung ganzer Bildteile, sein offenes Weiß erhält vielfach eine, dem grafisch Durchgebildeten ebenbürtige Bedeutung bzw. Wirkung. Im Weglassen bildlogischer Teile zugunsten dieser Wirkung sehe ich sein künstlerisches „Konstruktions“-Prinzip, das bis zu „Gekünsteltem“ gehen kann, das meinen Blättern trotz aller Verwandtschaft mit denen Herzogs, eigentlich fremd ist. (vgl. z. B. die Radierungen Herzogs 149, 197, 244, 263 im Gesamtverzeichnis 1984).
Bei dem Blatt „Das Neugeborene“ zum Jahr des Kindes stimme ich Ihnen durchaus zu: die „Referenzen an Ahnen der Geschichte“ sind hier sehr vordergründig. Aber diese Zitatensammlung ist gegenüber anderen Adaptionen absichtlich weit getrieben.
Ich wollte die fremden Bildaggregate in einem neuen Zusammenhang verzahnen und sowohl durch das jeweilige Zitat als auch durch seine Beziehung zum Ganzen die Überlegung des Betrachters in eine bestimmte Richtung lenken. Mit dem Untertitel „Hommage…“ sollte diese Absicht unterstrichen werden. Das Zitatenkonglomerat habe ich zugunsten der künstlerischen Einheit und mit der Absicht gewisser Verfremdung mit einer linierten Farbplatte auf der Ebene der Fremdformen wieder etwas zurückgenommen.
Eine didaktische Funktion liegt bei derartigen Blättern auch darin, den Betrachter zu veranlassen, den fremden Ausgangspunkt aufzusuchen, sich in dessen Wirkung zu begeben. Dass ich die Kunstgeschichte nicht nur hinsichtlich der Werke bemühe, die mir gerade bildmäßig ins Konzept passen, sondern auf jene hinweise, die mich selbst besonders berühren, liegt auf der Hand.
Dürer hat allerdings im Blatt „Das Neugeborene“ nur rechts oben ein wenig abbekommen (Ausschnitt aus dem „Großen büßenden Hieronymus“). In der Mitte der Hintergrundlandschaft steht C. D. Friedrichs „Einsamer Baum“, links schließt sich ein seitenverkehrter Ausschnitt aus Radziwills „Wohin in dieser Welt?“ an. Dieser Titel steht zusammen mit dem eigentlichen Titel „Das Neugeborene“ programmatisch für das Ganze. Der (seitenrichtige) Christophorus von Otto Dix trägt nicht den Jesusknaben aus dem Bild von 1938, sondern das Kind von Runge, das er für den „Großen Morgen“ als Naturstudie malte. Es steht dem Knospenfeld räumlich am nächsten und wird zusammen mit seinem Träger von dem Flugzeug bedroht, dessen verlängerte Achse auf die beiden zielt. Hier würde ich sehr wohl den Vorwurf der Konstruiertheit annehmen, aber verzichten konnte ich auf den „Nothelfer“ nicht, zumal er nicht als Renaissance-Beispiel fungiert, sondern als programmatische Figur eines Nazigegners, unmittelbar vor Beginn des 2. Weltkrieges. Ähnlich liegen die Dinge ja auch bei Radziwill, der zunächst der faschistischen Demagogie verfallen war und 1940 als Soldat den Einfall der Naziwehrmacht in Holland und Belgien erlebte, im gleichen Jahr den drohenden Weltuntergang malte.
Auszug aus einem Brief von Gerenot Richter vom 20. Februar 1985 an die Journalistin Sabine Sülflohn. Richter nahm Bezug auf ihre Rezension in der „Neuen Zeit“ vom 22. November 1984, veröffentlicht in: Meister des Kupferstichs, 1997