Allein das Wort „Grafik“ – zurückgeführt auf seine sprachlichen Ursprünge – griechisch: schreiben – verweist für das vorgestellte Œuvre Charakteristisches: die Linie, vom Zug der schreibenden, zeichnenden, formenden Hand bestimmt, wird zum entscheidenden Mittel der Realisierung künstlerischer Intentionen. Linien können glatt, kühl, schroff, rau, sanft, fließend, schwingend, weich sein – so, wie der Schreibende mit ihrer Hilfe dem Kundigen spontan sein Wesen offenbart, kann sie dem Gestaltenden markantes Zeichen seiner individuellen Befindlichkeit, seines Lebensgefühls seines Weltverhältnisses, werden
Technologische Spezifika beeinflussen und begrenzen zwar die endgültige Formulierung der Aussage – lassen etwa das Liniengefüge einer Zeichnung oder Radierung zum Gespinst einer Textur, aus dem Bildhaftes hervortritt, zusammenwachsen oder dieselbe Linie malerisch überschatten – doch bleibt dahinter erkennbar die unverwechselbare Wesenhaftigkeit des Künstlers selbst, der sich öffnet, um nach Gleichgesinnten zu suchen.
Das Schaffen von Professor Gerenot Richter, Dozent für Malerei und Grafik im Bereich Kunsterziehung an der Humboldt Universität Berlin, steht schon seit langem außerhalb der gelegentlichen Diskussionen unter professionellen Künstlern um die Rolle malender und zeichnender Lehrer in der Kunstszene, und das nicht nur, weil er seit 20 Jahren dem Verband Bildender Künstler angehört und schon zahlreiche Ausstellungen mit seinen Blättern bereichern konnte. Was häufig dem Laien wesentliches Ziel seiner Bemühungen ist – handwerkliche Perfektion – dient Richter wie jedem ernsthaft ambitionierten Künstler lediglich als (allerdings mit hervorragender Meisterschaft beherrschtes) Medium, um seine ganz persönliche Beziehung zu den Dingen des Lebens zu offenbaren.
Vor allem die Ätz-Radierung ermöglicht es ihm, in feinstem Geäder baulicher und organischer Strukturen die Spuren einer empfindsamen, vergänglichen Schönheit sichtbar zu machen, die aus dem kleinsten Detail ein zauberisch, verwunschen anmutendes Märchenreich entstehen lässt. Unmerklich wird man eingesponnen in Geschichten, in denen Fundstücke, Veränderungen der Landschaft, Reste von Gebautem, Geformten das Wirken von Menschen verraten, die längst aus dieser Bildwelt verschwunden sind – einer Welt, die nun ihr eigenes Leben beginnt und die Hinterlassenschaften der Menschen überwuchert.
Aquatinta-Schleier mystifizieren dieses geheimnisvolle Geschehen, und lösen die klare Richtung mancher Linie ins Ungewisse: hinter eindeutig Lesbarem wird Vieldeutigkeit spürbar. Die häufig vorgeführte Verletztheit und Verletzbarkeit von Gewachsenem und Gebautem deutet zwar auf eine große Sehnsucht nach Harmonie und die Hoffnung auf die alles besänftigende Kraft der Natur, doch wohl ebenso auf das Einverständnis des Künstlers mit der Widersprüchlichkeit des Lebens, seiner Zeitlichkeit und Endlichkeit, mit der dialektischen Korrespondenz zwischen Werden und Vergehen, zwischen Gestern, Heute und Morgen, die Gewächs und Mensch im gemeinsamen Ursprung und Schicksal miteinander verschmelzen lassen.
Neben die konzeptionell klar durchdachten und so konsequent wie sensibel ausformulierten Gefüge der Ätz-Radierungen setzt Gerenot Richter einzelne Kaltnadel-Blätter, deren impressivere, rauere, eher malerische Sprache sowohl auf die größere Spontanität des grafischen Vorgangs wie auch auf die Möglichkeit orientiert, sich als Künstler der eigenen Aus-Deutung weitgehend zu enthalten und stärker über das konkrete sinnliche Erlebnis des Augenblicks als über das rationale Erkennen des So-Geworden-Seins die Gefühls- und Gedankenwelt des Betrachters, sein Potenzial an Assoziationen wachzurufen. Nicht komplizierte geschichtliche Bezüglichkeit soll hier entschlüsselt werden, nicht Welterfahrung und kulturhistorisches Wissen muss der Betrachter – wie in manche seiner anderen Arbeiten – einbringen, sondern die – oft minder entwickelte – Fähigkeit, die Wirklichkeit einfach nur gründlich und tiefer zu sehen, so Gesehenes als Gefühltes zu bewahren und dem Bild während der Betrachtung hinzuzufügen. Und vielleicht ist dies sogar die wichtigste Botschaft der Kunst von Gerenot Richter, über die Schaulust an die Denklust in uns zu appellieren, so dass – während das Auge dem Fluss der Linien folgt – der Fluss der Gedanken und der Gefühle freigesetzt wird, um uns, letzten Endes, immer wieder auf uns selbst zurückzuführen.
Dieser Text wurde erstmals veröffentlicht in:
Galerie im Cranachhaus, Weimar (1987)
Katalog zur Ausstellung vom 7. April bis 15. Mai 1987
Fotos der Arbeiten im Katalog: Lutz Körner und Milan Nelken (beide Berlin)