„12 Torsi“ entstanden 1982 bis 1983
WV II-172 Torso I (Buhnen)
WV II-173 Torso II (Stubben)
WV II-174 Torso III (Linde)
WV II-175 Torso IV (Strandgut)
WV II-176 Torso V (Buche)
WV II-179 Torso VI (Fichte)
WV II-180 Torso VII (Pappel)
WV II-181 Torso VIII (Strandgut)
WV II-182 Torso IX (Weide)
WV II-183 Torso X (Strandgut)
WV II-184 Torso XI (Weide)
Die gesamte Folge (auch als Zusammendruck) oder Teile daraus befinden sich folgenden Sammlungen:
Aus einem Text von Gisold Lammel
„In Richters Oeuvre gibt es eine Vielzahl von Miniaturen, denen eine erstaunliche meditative Kraft innewohnt. Sie entstanden gewissermaßen als Erholungsstücke neben oder nach der aufwendigen und ihn ganz fordernden Arbeit an seinen großen Ätzradierungen. Diese zumeist in sehr kurzer Zeit geschaffenen Kleingraphiken sind aufs vielfältigste mit seinem übrigen Schaffen verbunden und keineswegs nur Nachhall auf bereits radierte Bilder.
Einige Kompositionen en miniature sind singuläre Erscheinung in seinem druckgrafischen Werk geblieben oder Urbilder für größere Arbeiten geworden. Gewiss ist sein Bemühen um Formenzusammenfassungen und Motivbeschränkungen in den Miniaturen stärker als in seinen übrigen Grafiken ablesbar, aber im wesentlichen ist er hier wie da bei seiner eigenartigen Gestaltungsweise geblieben und hat die kleinen wie die großen Blätter kompositorisch klar und zeichnerisch differenziert ausgeführt. Allerdings bezog er bei den Miniaturen viel seltener die Aquatinta als flächenätzendes Mittel ein und erreichte Helldunkelwirkungen in der Regel durch zeichnerische Verdichtung“.
„Im Italienischen bedeutet Torso Baumstumpf. Aber das Wort hat im Laufe der Zeit eine Bedeutungserweiterung erfahren und bezeichnet das unvollständig erhaltene oder unvollendete Kunstwerk wie auch ganz allgemein das beachtenswerte Fragment. Baumtorsi sind von vielen Künstlern der Vergangenheit dargestellt worden, von Rembrandt ebenso wie von Caspar David Friedrich; aber zum Thema einer langen Bildreihe hat sie wohl erst Gerenot Richter gemacht.
1979 / 1980 schuf Richter die sechs Radierungen Verletzte Bäume und 1982 / 1983 die noch mehr einem gedanklichen Gesamtplan unterliegende Folge der Zwölf Torsi. Von beiden Reihen existieren auch Zusammendrucke, das heißt, es wurden alle Platten der jeweiligen Serie auf einem Papierbogen abgedruckt, so dass Bilderkomplexe entstanden. Gewiss wurde durch dieses Verfahren die Vielfalt der Kompositionen leichter überschaubar und stellten sich zusätzliche formale und gedankliche Bezüge ein, aber das einzelne Bild wurde dort von den anderen Bildfeldern bedrängt. Separatdrucke kommen einer Versenkung ins Detail wohl doch mehr entgegen.
Mit der Mappe Dreizehn Torsi deutete Richter die Vielfalt von Baum- und Lebensschicksalen an. Die auf diesen Miniaturen auftretenden Baumarten sind mehr oder weniger zufällig und entsprechend selbst erlebten Situationen gestaltet. Insofern ist auch inhaltlich kein bewusster Zusammenhang von Verletzungsart und Baumindividuum gegeben. Er hielt verschiedene Verletzungsformen und unterschiedliche Stufen des Sterbens und Gestaltwandels fest und zeigte aus dem ursprünglichen Lebensraum gerissene Bäume wie auch durch Naturkatastrophen zu Schaden gekommene und vom Menschen gestutzte und gefällte Bäume.
Die von ihm dargestellten Torsi sind alle ganz nah an das Betrachterauge gerückt. Sie gehen aber unterschiedliche Beziehungen mit der sie umgebenden Landschaft ein. Auf einigen Bildern verriegeln sie so den Vordergrund, dass kaum noch das Umfeld sichtbar ist, auf anderen hingegen gestatten sie Durchblicke auf große Landschaftsausschnitte. Die Bildräume sind also von unterschiedlicher Tiefe. Bei dem Torso V ist die zerspellte Buche Teil eines sich weit ausdehnenden Laubwaldes, während bei dem Torso IX die Weide stillebenhaft das dahinterliegende Terrain völlig verdeckt.
Tiefenräumlichkeit und atmosphärische Wirkungen, aber ebenso die strukturelle Vertiefung der Baumfragmente des Vordergrundes erreichte Richter mittels differenzierter Ätzstufen. Die erstaunliche Präzision und Subtilität seiner Strichführung kann gar nicht mit bloßem Auge bis ins letzte erfasst werden. Erst unter der Lupe erkennt man, dass er auch das winzigste Detail sorgfältig gestaltet hat. Bei eingehender Betrachtung ist die Freude des Künstlers an den Spannungen von großen und kleinen Formen, vorn und hinten Gelagertem, Ganzheit und Differenziertheit u.a.m. durchaus nachvollziehbar.
Um die Beziehung der Zwölf Torsi [1982 / 1983] zu der wenige Jahre zuvor entstandenen Folge der verletzten Bäume anzudeuten, entschloss sich Richter, das Bild Abgefressen in das Mappenwerk aufzunehmen. Auf ihm ragen aus üppigem Gras erbärmliche Reste von Ebereschen heraus, auf denen sich ein Vogel niedergelassen hat und einen etwas versöhnenden Klang in die Elegie bringt.
Die in diesem Blatt an den Tag gelegte frontale Sicht auf ein bildfüllendes Baumfragment behielt Richter in der gesamten Folge der zwölf Torsi bei, auf diese Weise eine gewisse Monumentalität mitbewirkend. Und in der Tat handelt es sich hier um Monumente, um Denkmäler, die an Lebensschicksale und Vergänglichkeit erinnern. Allerdings sind hier die Verstorbenen selbst Gedächtnismal und die Sterbenden und Versehrten zum memento mori geworden.
Ein Blatt der Torsi-Folge gibt einen Stubben mit seltsam geformten Wurzeln wieder, aus denen bei genauerem Hinsehen wunderliche Gesichter hervortreten. Freude am Spiel mit der mehrfach deutbaren Form macht sich hier geltend und weist darauf, dass es dem Künstler weniger um erscheinungsgetreue. sondern vielmehr um phantastische Sujetbewältigung gegangen ist.
Auf einem anderen Blatt, dem Torso VIII, windet sich vom Wasser angegriffenes Gehölz am Strand und nimmt Linien der dahinter liegenden entwurzelten Bäume auf. Ein noch intakter Waldstreifen in der Tiefe des Bildraumes macht kenntlich, dass die Naturgewalten hier nur begrenzt ihr Zerstörungswerk verrichtet haben.
Zwei andere Bilder dieser Folge, die von einem Sturm gebrochene Bäume zeigen, führen den jähen Tod vor Augen. Wie ein durch Mark und Bein gehender Schrei wirkt das zersplitterte Holz der Buche, und ebenso erschütternd ist die Darstellung der Fichte, bei der ein großes Stück Borke abgeknickt ist und die Bruchstelle entblößt.
Die Torsi-Radierungen bilden kein fest gefügtes Ganzes, sondern eine Reihe, die der Künstler noch hätte erweitern können. Auch darin liegt eine Aussageabsicht: Einzelschicksale sind nicht überblickbar, sie bilden ein Meer ohne sichtbare Ufer."